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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Das Verordnungsrecht in England.

Das englische Staatsleben hat, da in ihm das Königthum nie so weit kam,
die Berechtigung der ständischen Selbständigkeit zu vernichten, auch immer das
Princip festgehalten, daß nur dasjenige für das Volk Gültigkeit habe, was durch
ein Gesetz im eigentlichen Sinne befohlen sei. Das englische Volk kennt daher
ursprünglich den continentalen Begriff der Verordnungsgewalt überhaupt nicht,
noch weniger den Begriff der sog. provisorischen Gesetze. Das englische Rechts-
bewußtsein stellt sich daher auf den scheinbar sehr einfachen Standpunkt, daß
jeder Akt eines Organs der Regierungsgewalt nichts anderes sein kann und
dürfe, als die bestimmte Vollziehung eines Gesetzes. Der Rechtsgrund,
vermöge dessen dem Befehl des Beamteten Gehorsam geleistet wird, ist immer
ein Gesetz, das zu seiner Vollziehung eines solchen Befehles bedarf; es gibt über-
haupt formell keinen Gehorsam gegen Beamtete, sondern nur gegen Gesetze. Der
Begriff der Verwaltung in unserm Sinne existirt für diesen gar nicht, im Grunde
auch nicht der Begriff der "Obrigkeit"; das Organ der Regierung ist nicht be-
rechtigt, einen selbständigen aus dem Wesen und Leben des Staats hervorgehen-
den Willen, eine Verordnung zu setzen; es ist nur Richter, und seine Thätig-
keit, der Inhalt der ganzen (amtlichen) Verwaltung ist nur die richterliche Voll-
ziehung der bestehenden Gesetze. Damit ist nun eine Grundlage gewonnen,
die von der continentalen wesentlich verschieden erscheint, und die zuerst wohl
Montesquieu verstand, als er als dritte Gewalt nicht etwa die Vollziehung im
Allgemeinen, sondern neben dem pouvoir legislatif und judiciaire die "puissance
executrice des choses qui dependent du droit civil"
aufstellte (L. XI. Ch. VI.)
und dabei zugleich England als Muster vorführt. Das System, welches sich
daraus ergeben hat, ist nun leicht verständlich; dennoch ist es kein Zweifel, daß
wir dieß Verständniß erst Gneist verdanken, der zuerst in die Rechtsgeschichte
überhaupt die Geschichte der Verwaltung hineingebracht hat, und damit der
Schöpfer einer neuen und unmeßbar wichtigen Richtung geworden ist. Uns bleibt
nichts übrig, als uns hier wie im Folgenden an ihn anzuschließen, wenn wir
auch manches ein wenig anders zu ordnen gezwungen sein werden, um das Ver-
hältniß zu unsrer Auffassung klar hervortreten zu lassen. Was Gneist schon in
seinem Engl. Verfassungs- und Verwaltungsrecht (II, §. 73 ff.) dargestellt hat, ist in
seiner kleinen Broschüre: "Soll der Richter auch über die Frage zu befinden haben,
ob ein Gesetz verfassungsmäßig zu Stande gekommen ist?" (1863, S. 8 f.) zum
Theil noch prägnanter zusammengefaßt. Das Ergebniß ist Folgendes. Das Organ,
welches Recht spricht, ist der Friedensrichter; der Friedensrichter ist aber nicht bloß
Richter, sondern er ist der örtliche Inhaber der gesammten königlichen Gewalt
für seinen Bezirk. Er hat daher im Namen des Königs alle Funktionen dieser
königlichen Gewalt zu vollziehen, mithin auch die Akte der Verwaltung. Allein
da der König selbst doch nur im Namen der Gesetze verwalten kann, so erscheint
jeder Verwaltungsakt des Friedensrichters als ein Richterspruch.
Daraus folgen zwei große Grundsätze. Erstlich, daß der Friedensrichter auch
in seiner ganzen administrativen Thätigkeit gegenüber dem Einzelnen als Richter
dasteht, und mithin jeder Akt seiner Verwaltung genau wie ein Richterspruch

Stein, die Verwaltungslehre. I. 9
Das Verordnungsrecht in England.

Das engliſche Staatsleben hat, da in ihm das Königthum nie ſo weit kam,
die Berechtigung der ſtändiſchen Selbſtändigkeit zu vernichten, auch immer das
Princip feſtgehalten, daß nur dasjenige für das Volk Gültigkeit habe, was durch
ein Geſetz im eigentlichen Sinne befohlen ſei. Das engliſche Volk kennt daher
urſprünglich den continentalen Begriff der Verordnungsgewalt überhaupt nicht,
noch weniger den Begriff der ſog. proviſoriſchen Geſetze. Das engliſche Rechts-
bewußtſein ſtellt ſich daher auf den ſcheinbar ſehr einfachen Standpunkt, daß
jeder Akt eines Organs der Regierungsgewalt nichts anderes ſein kann und
dürfe, als die beſtimmte Vollziehung eines Geſetzes. Der Rechtsgrund,
vermöge deſſen dem Befehl des Beamteten Gehorſam geleiſtet wird, iſt immer
ein Geſetz, das zu ſeiner Vollziehung eines ſolchen Befehles bedarf; es gibt über-
haupt formell keinen Gehorſam gegen Beamtete, ſondern nur gegen Geſetze. Der
Begriff der Verwaltung in unſerm Sinne exiſtirt für dieſen gar nicht, im Grunde
auch nicht der Begriff der „Obrigkeit“; das Organ der Regierung iſt nicht be-
rechtigt, einen ſelbſtändigen aus dem Weſen und Leben des Staats hervorgehen-
den Willen, eine Verordnung zu ſetzen; es iſt nur Richter, und ſeine Thätig-
keit, der Inhalt der ganzen (amtlichen) Verwaltung iſt nur die richterliche Voll-
ziehung der beſtehenden Geſetze. Damit iſt nun eine Grundlage gewonnen,
die von der continentalen weſentlich verſchieden erſcheint, und die zuerſt wohl
Montesquieu verſtand, als er als dritte Gewalt nicht etwa die Vollziehung im
Allgemeinen, ſondern neben dem pouvoir législatif und judiciaire die „puissance
exécutrice des choses qui dépendent du droit civil
aufſtellte (L. XI. Ch. VI.)
und dabei zugleich England als Muſter vorführt. Das Syſtem, welches ſich
daraus ergeben hat, iſt nun leicht verſtändlich; dennoch iſt es kein Zweifel, daß
wir dieß Verſtändniß erſt Gneiſt verdanken, der zuerſt in die Rechtsgeſchichte
überhaupt die Geſchichte der Verwaltung hineingebracht hat, und damit der
Schöpfer einer neuen und unmeßbar wichtigen Richtung geworden iſt. Uns bleibt
nichts übrig, als uns hier wie im Folgenden an ihn anzuſchließen, wenn wir
auch manches ein wenig anders zu ordnen gezwungen ſein werden, um das Ver-
hältniß zu unſrer Auffaſſung klar hervortreten zu laſſen. Was Gneiſt ſchon in
ſeinem Engl. Verfaſſungs- und Verwaltungsrecht (II, §. 73 ff.) dargeſtellt hat, iſt in
ſeiner kleinen Broſchüre: „Soll der Richter auch über die Frage zu befinden haben,
ob ein Geſetz verfaſſungsmäßig zu Stande gekommen iſt?“ (1863, S. 8 f.) zum
Theil noch prägnanter zuſammengefaßt. Das Ergebniß iſt Folgendes. Das Organ,
welches Recht ſpricht, iſt der Friedensrichter; der Friedensrichter iſt aber nicht bloß
Richter, ſondern er iſt der örtliche Inhaber der geſammten königlichen Gewalt
für ſeinen Bezirk. Er hat daher im Namen des Königs alle Funktionen dieſer
königlichen Gewalt zu vollziehen, mithin auch die Akte der Verwaltung. Allein
da der König ſelbſt doch nur im Namen der Geſetze verwalten kann, ſo erſcheint
jeder Verwaltungsakt des Friedensrichters als ein Richterſpruch.
Daraus folgen zwei große Grundſätze. Erſtlich, daß der Friedensrichter auch
in ſeiner ganzen adminiſtrativen Thätigkeit gegenüber dem Einzelnen als Richter
daſteht, und mithin jeder Akt ſeiner Verwaltung genau wie ein Richterſpruch

Stein, die Verwaltungslehre. I. 9
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[129/0153] Das Verordnungsrecht in England. Das engliſche Staatsleben hat, da in ihm das Königthum nie ſo weit kam, die Berechtigung der ſtändiſchen Selbſtändigkeit zu vernichten, auch immer das Princip feſtgehalten, daß nur dasjenige für das Volk Gültigkeit habe, was durch ein Geſetz im eigentlichen Sinne befohlen ſei. Das engliſche Volk kennt daher urſprünglich den continentalen Begriff der Verordnungsgewalt überhaupt nicht, noch weniger den Begriff der ſog. proviſoriſchen Geſetze. Das engliſche Rechts- bewußtſein ſtellt ſich daher auf den ſcheinbar ſehr einfachen Standpunkt, daß jeder Akt eines Organs der Regierungsgewalt nichts anderes ſein kann und dürfe, als die beſtimmte Vollziehung eines Geſetzes. Der Rechtsgrund, vermöge deſſen dem Befehl des Beamteten Gehorſam geleiſtet wird, iſt immer ein Geſetz, das zu ſeiner Vollziehung eines ſolchen Befehles bedarf; es gibt über- haupt formell keinen Gehorſam gegen Beamtete, ſondern nur gegen Geſetze. Der Begriff der Verwaltung in unſerm Sinne exiſtirt für dieſen gar nicht, im Grunde auch nicht der Begriff der „Obrigkeit“; das Organ der Regierung iſt nicht be- rechtigt, einen ſelbſtändigen aus dem Weſen und Leben des Staats hervorgehen- den Willen, eine Verordnung zu ſetzen; es iſt nur Richter, und ſeine Thätig- keit, der Inhalt der ganzen (amtlichen) Verwaltung iſt nur die richterliche Voll- ziehung der beſtehenden Geſetze. Damit iſt nun eine Grundlage gewonnen, die von der continentalen weſentlich verſchieden erſcheint, und die zuerſt wohl Montesquieu verſtand, als er als dritte Gewalt nicht etwa die Vollziehung im Allgemeinen, ſondern neben dem pouvoir législatif und judiciaire die „puissance exécutrice des choses qui dépendent du droit civil“ aufſtellte (L. XI. Ch. VI.) und dabei zugleich England als Muſter vorführt. Das Syſtem, welches ſich daraus ergeben hat, iſt nun leicht verſtändlich; dennoch iſt es kein Zweifel, daß wir dieß Verſtändniß erſt Gneiſt verdanken, der zuerſt in die Rechtsgeſchichte überhaupt die Geſchichte der Verwaltung hineingebracht hat, und damit der Schöpfer einer neuen und unmeßbar wichtigen Richtung geworden iſt. Uns bleibt nichts übrig, als uns hier wie im Folgenden an ihn anzuſchließen, wenn wir auch manches ein wenig anders zu ordnen gezwungen ſein werden, um das Ver- hältniß zu unſrer Auffaſſung klar hervortreten zu laſſen. Was Gneiſt ſchon in ſeinem Engl. Verfaſſungs- und Verwaltungsrecht (II, §. 73 ff.) dargeſtellt hat, iſt in ſeiner kleinen Broſchüre: „Soll der Richter auch über die Frage zu befinden haben, ob ein Geſetz verfaſſungsmäßig zu Stande gekommen iſt?“ (1863, S. 8 f.) zum Theil noch prägnanter zuſammengefaßt. Das Ergebniß iſt Folgendes. Das Organ, welches Recht ſpricht, iſt der Friedensrichter; der Friedensrichter iſt aber nicht bloß Richter, ſondern er iſt der örtliche Inhaber der geſammten königlichen Gewalt für ſeinen Bezirk. Er hat daher im Namen des Königs alle Funktionen dieſer königlichen Gewalt zu vollziehen, mithin auch die Akte der Verwaltung. Allein da der König ſelbſt doch nur im Namen der Geſetze verwalten kann, ſo erſcheint jeder Verwaltungsakt des Friedensrichters als ein Richterſpruch. Daraus folgen zwei große Grundſätze. Erſtlich, daß der Friedensrichter auch in ſeiner ganzen adminiſtrativen Thätigkeit gegenüber dem Einzelnen als Richter daſteht, und mithin jeder Akt ſeiner Verwaltung genau wie ein Richterſpruch Stein, die Verwaltungslehre. I. 9

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/153>, abgerufen am 24.11.2024.