Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

Bild:
<< vorherige Seite

Das öffentliche Eherecht der Geschlechterordnung beruht auf
dem Recht des väterlichen Consenses zur Eingehung der Ehe, und auf
der Pflicht der Geschlechter, Ehen einzugehen, deren Erfüllung all-
mählig mit Strafen für die Hagestolzen und dann mit Belohnungen
für die Heirathen erzwungen werden soll.

Das öffentliche Eherecht der ständischen Ordnung beginnt bei
dem Consensrecht des Herrn zur Ehe des Unfreien, und des Lehns-
herrn zur Ehe des Vasallen, entwickelt sich zum ständischen Berufs-
recht der Ehe (Cölibat, Eheconsens für Militärs und Beamtete) und
geht damit zum Theil über in die folgende Epoche, während das Hage-
stolzenrecht und die Beförderungen der Ehe verschwinden.

In der staatsbürgerlichen Gesellschaft beginnt die polizeiliche Epoche,
die Eherechtsbildung der Verwaltung zu gleicher Zeit auf der entgegen-
gesetzten Grundlage der Beförderung der Ehen, um durch sie die
Bevölkerung zu vermehren, und der Verhinderung derselben, um
die Armuth zu bekämpfen. Daher gilt als allgemeine Tendenz der
Regierung und ihrer dadurch oft einander direkt entgegengesetzten Be-
stimmungen und Maßregeln, die Ehen Erwerbsfähiger zu erleichtern,
die Ehen Erwerbsunfähiger zu erschweren. Indessen sind diese all-
gemeinen Vorschriften der Regierung noch von geringem Einfluß und
nehmen mehr einen theoretischen als einen praktischen Standpunkt an.
Die wahre Heimath des öffentlichen Eherechts dieser Zeit für das ent-
stehende Bürgerthum ist vielmehr das Gemeinderecht, indem der
Grundsatz, daß die Geburt das Heimathsrecht und mithin die Unter-
stützungspflicht der Gemeinden erzeugt, zu der Berechtigung der letzteren
führt, ihren Consens zu der Ehe namentlich bei neuen Niederlassungen
zu geben, was dann mit dem Zunftrecht in engste Verbindung tretend,
die Abhängigkeit der Ehen von dem Gemeindeconsens zu
einem fast allgemeinen Rechtssatz macht, neben dem die rein polizei-
lichen Ehevorschriften nur noch wenig bedeuten.

Erst in unserem Jahrhundert, namentlich aber mit der Gewerbe-
freiheit einerseits und mit der Anerkennung der statistischen Thatsache
andererseits, daß die Eheverbote nur die Zahl der unehelichen Kinder
und der wilden Ehen vermehren, tritt die völlige Freiheit der Ehe,
die Beseitigung aller öffentlich rechtlichen Eheconsense und Ehebeförde-
rungen als allgemein gültiger Grundsatz auf, der in England und
Frankreich unbestritten besteht, in Deutschland aber freilich noch immer
gegenüber den Rechten und Interessen der Gemeinden nicht zur völli-
gen Geltung hat gelangen können. Die Regierungen haben dabei fast
ohne Ausnahme sich direkter Anwendung polizeilicher Ehevorschriften
mehr und mehr enthalten. Es ist daher voraussichtlich das öffentliche

Das öffentliche Eherecht der Geſchlechterordnung beruht auf
dem Recht des väterlichen Conſenſes zur Eingehung der Ehe, und auf
der Pflicht der Geſchlechter, Ehen einzugehen, deren Erfüllung all-
mählig mit Strafen für die Hageſtolzen und dann mit Belohnungen
für die Heirathen erzwungen werden ſoll.

Das öffentliche Eherecht der ſtändiſchen Ordnung beginnt bei
dem Conſensrecht des Herrn zur Ehe des Unfreien, und des Lehns-
herrn zur Ehe des Vaſallen, entwickelt ſich zum ſtändiſchen Berufs-
recht der Ehe (Cölibat, Eheconſens für Militärs und Beamtete) und
geht damit zum Theil über in die folgende Epoche, während das Hage-
ſtolzenrecht und die Beförderungen der Ehe verſchwinden.

In der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beginnt die polizeiliche Epoche,
die Eherechtsbildung der Verwaltung zu gleicher Zeit auf der entgegen-
geſetzten Grundlage der Beförderung der Ehen, um durch ſie die
Bevölkerung zu vermehren, und der Verhinderung derſelben, um
die Armuth zu bekämpfen. Daher gilt als allgemeine Tendenz der
Regierung und ihrer dadurch oft einander direkt entgegengeſetzten Be-
ſtimmungen und Maßregeln, die Ehen Erwerbsfähiger zu erleichtern,
die Ehen Erwerbsunfähiger zu erſchweren. Indeſſen ſind dieſe all-
gemeinen Vorſchriften der Regierung noch von geringem Einfluß und
nehmen mehr einen theoretiſchen als einen praktiſchen Standpunkt an.
Die wahre Heimath des öffentlichen Eherechts dieſer Zeit für das ent-
ſtehende Bürgerthum iſt vielmehr das Gemeinderecht, indem der
Grundſatz, daß die Geburt das Heimathsrecht und mithin die Unter-
ſtützungspflicht der Gemeinden erzeugt, zu der Berechtigung der letzteren
führt, ihren Conſens zu der Ehe namentlich bei neuen Niederlaſſungen
zu geben, was dann mit dem Zunftrecht in engſte Verbindung tretend,
die Abhängigkeit der Ehen von dem Gemeindeconſens zu
einem faſt allgemeinen Rechtsſatz macht, neben dem die rein polizei-
lichen Ehevorſchriften nur noch wenig bedeuten.

Erſt in unſerem Jahrhundert, namentlich aber mit der Gewerbe-
freiheit einerſeits und mit der Anerkennung der ſtatiſtiſchen Thatſache
andererſeits, daß die Eheverbote nur die Zahl der unehelichen Kinder
und der wilden Ehen vermehren, tritt die völlige Freiheit der Ehe,
die Beſeitigung aller öffentlich rechtlichen Eheconſenſe und Ehebeförde-
rungen als allgemein gültiger Grundſatz auf, der in England und
Frankreich unbeſtritten beſteht, in Deutſchland aber freilich noch immer
gegenüber den Rechten und Intereſſen der Gemeinden nicht zur völli-
gen Geltung hat gelangen können. Die Regierungen haben dabei faſt
ohne Ausnahme ſich direkter Anwendung polizeilicher Ehevorſchriften
mehr und mehr enthalten. Es iſt daher vorausſichtlich das öffentliche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <pb facs="#f0098" n="74"/>
                  <p>Das öffentliche Eherecht der <hi rendition="#g">Ge&#x017F;chlechterordnung</hi> beruht auf<lb/>
dem <hi rendition="#g">Recht</hi> des väterlichen Con&#x017F;en&#x017F;es zur Eingehung der Ehe, und auf<lb/>
der <hi rendition="#g">Pflicht</hi> der Ge&#x017F;chlechter, Ehen einzugehen, deren Erfüllung all-<lb/>
mählig mit Strafen für die Hage&#x017F;tolzen und dann mit Belohnungen<lb/>
für die Heirathen erzwungen werden &#x017F;oll.</p><lb/>
                  <p>Das öffentliche Eherecht der <hi rendition="#g">&#x017F;tändi&#x017F;chen Ordnung</hi> beginnt bei<lb/>
dem Con&#x017F;ensrecht des Herrn zur Ehe des Unfreien, und des Lehns-<lb/>
herrn zur Ehe des Va&#x017F;allen, entwickelt &#x017F;ich zum &#x017F;tändi&#x017F;chen <hi rendition="#g">Berufs</hi>-<lb/>
recht der Ehe (Cölibat, Ehecon&#x017F;ens für Militärs und Beamtete) und<lb/>
geht damit zum Theil über in die folgende Epoche, während das Hage-<lb/>
&#x017F;tolzenrecht und die Beförderungen der Ehe ver&#x017F;chwinden.</p><lb/>
                  <p>In der &#x017F;taatsbürgerlichen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft beginnt die polizeiliche Epoche,<lb/>
die Eherechtsbildung der Verwaltung zu gleicher Zeit auf der entgegen-<lb/>
ge&#x017F;etzten Grundlage der <hi rendition="#g">Beförderung</hi> der Ehen, um durch &#x017F;ie die<lb/>
Bevölkerung zu vermehren, und der <hi rendition="#g">Verhinderung</hi> der&#x017F;elben, um<lb/>
die Armuth zu bekämpfen. Daher gilt als allgemeine Tendenz der<lb/>
Regierung und ihrer dadurch oft einander direkt entgegenge&#x017F;etzten Be-<lb/>
&#x017F;timmungen und Maßregeln, die Ehen Erwerb<hi rendition="#g">sfähiger</hi> zu erleichtern,<lb/>
die Ehen Erwerb<hi rendition="#g">sunfähiger</hi> zu er&#x017F;chweren. Inde&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ind die&#x017F;e all-<lb/>
gemeinen Vor&#x017F;chriften der Regierung noch von geringem Einfluß und<lb/>
nehmen mehr einen theoreti&#x017F;chen als einen prakti&#x017F;chen Standpunkt an.<lb/>
Die wahre Heimath des öffentlichen Eherechts die&#x017F;er Zeit für das ent-<lb/>
&#x017F;tehende Bürgerthum i&#x017F;t vielmehr das <hi rendition="#g">Gemeinderecht</hi>, indem der<lb/>
Grund&#x017F;atz, daß die Geburt das Heimathsrecht und mithin die Unter-<lb/>
&#x017F;tützungspflicht der Gemeinden erzeugt, zu der Berechtigung der letzteren<lb/>
führt, ihren Con&#x017F;ens zu der Ehe namentlich bei neuen Niederla&#x017F;&#x017F;ungen<lb/>
zu geben, was dann mit dem Zunftrecht in eng&#x017F;te Verbindung tretend,<lb/>
die <hi rendition="#g">Abhängigkeit der Ehen von dem Gemeindecon&#x017F;ens</hi> zu<lb/>
einem fa&#x017F;t allgemeinen Rechts&#x017F;atz macht, neben dem die rein polizei-<lb/>
lichen Ehevor&#x017F;chriften nur noch wenig bedeuten.</p><lb/>
                  <p>Er&#x017F;t in un&#x017F;erem Jahrhundert, namentlich aber mit der Gewerbe-<lb/>
freiheit einer&#x017F;eits und mit der Anerkennung der &#x017F;tati&#x017F;ti&#x017F;chen That&#x017F;ache<lb/>
anderer&#x017F;eits, daß die Eheverbote nur die Zahl der unehelichen Kinder<lb/>
und der wilden Ehen vermehren, tritt die völlige <hi rendition="#g">Freiheit der Ehe</hi>,<lb/>
die Be&#x017F;eitigung aller öffentlich rechtlichen Ehecon&#x017F;en&#x017F;e und Ehebeförde-<lb/>
rungen als allgemein gültiger Grund&#x017F;atz auf, der in England und<lb/>
Frankreich unbe&#x017F;tritten be&#x017F;teht, in Deut&#x017F;chland aber freilich noch immer<lb/>
gegenüber den Rechten und Intere&#x017F;&#x017F;en der <hi rendition="#g">Gemeinden</hi> nicht zur völli-<lb/>
gen Geltung hat gelangen können. Die Regierungen haben dabei fa&#x017F;t<lb/>
ohne Ausnahme &#x017F;ich direkter Anwendung polizeilicher Ehevor&#x017F;chriften<lb/>
mehr und mehr enthalten. Es i&#x017F;t daher voraus&#x017F;ichtlich das öffentliche<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[74/0098] Das öffentliche Eherecht der Geſchlechterordnung beruht auf dem Recht des väterlichen Conſenſes zur Eingehung der Ehe, und auf der Pflicht der Geſchlechter, Ehen einzugehen, deren Erfüllung all- mählig mit Strafen für die Hageſtolzen und dann mit Belohnungen für die Heirathen erzwungen werden ſoll. Das öffentliche Eherecht der ſtändiſchen Ordnung beginnt bei dem Conſensrecht des Herrn zur Ehe des Unfreien, und des Lehns- herrn zur Ehe des Vaſallen, entwickelt ſich zum ſtändiſchen Berufs- recht der Ehe (Cölibat, Eheconſens für Militärs und Beamtete) und geht damit zum Theil über in die folgende Epoche, während das Hage- ſtolzenrecht und die Beförderungen der Ehe verſchwinden. In der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft beginnt die polizeiliche Epoche, die Eherechtsbildung der Verwaltung zu gleicher Zeit auf der entgegen- geſetzten Grundlage der Beförderung der Ehen, um durch ſie die Bevölkerung zu vermehren, und der Verhinderung derſelben, um die Armuth zu bekämpfen. Daher gilt als allgemeine Tendenz der Regierung und ihrer dadurch oft einander direkt entgegengeſetzten Be- ſtimmungen und Maßregeln, die Ehen Erwerbsfähiger zu erleichtern, die Ehen Erwerbsunfähiger zu erſchweren. Indeſſen ſind dieſe all- gemeinen Vorſchriften der Regierung noch von geringem Einfluß und nehmen mehr einen theoretiſchen als einen praktiſchen Standpunkt an. Die wahre Heimath des öffentlichen Eherechts dieſer Zeit für das ent- ſtehende Bürgerthum iſt vielmehr das Gemeinderecht, indem der Grundſatz, daß die Geburt das Heimathsrecht und mithin die Unter- ſtützungspflicht der Gemeinden erzeugt, zu der Berechtigung der letzteren führt, ihren Conſens zu der Ehe namentlich bei neuen Niederlaſſungen zu geben, was dann mit dem Zunftrecht in engſte Verbindung tretend, die Abhängigkeit der Ehen von dem Gemeindeconſens zu einem faſt allgemeinen Rechtsſatz macht, neben dem die rein polizei- lichen Ehevorſchriften nur noch wenig bedeuten. Erſt in unſerem Jahrhundert, namentlich aber mit der Gewerbe- freiheit einerſeits und mit der Anerkennung der ſtatiſtiſchen Thatſache andererſeits, daß die Eheverbote nur die Zahl der unehelichen Kinder und der wilden Ehen vermehren, tritt die völlige Freiheit der Ehe, die Beſeitigung aller öffentlich rechtlichen Eheconſenſe und Ehebeförde- rungen als allgemein gültiger Grundſatz auf, der in England und Frankreich unbeſtritten beſteht, in Deutſchland aber freilich noch immer gegenüber den Rechten und Intereſſen der Gemeinden nicht zur völli- gen Geltung hat gelangen können. Die Regierungen haben dabei faſt ohne Ausnahme ſich direkter Anwendung polizeilicher Ehevorſchriften mehr und mehr enthalten. Es iſt daher vorausſichtlich das öffentliche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/98
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/98>, abgerufen am 25.11.2024.