Aus dieser dritten Epoche geht nun die vierte hervor, indem mit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus dem Gewerbe die Industrie und mit ihr die lokale Uebervölkerung entsteht, von denen die erste durch Arbeitsmangel den Mangel an Unterhalt, die zweite durch Theue- rung den Mangel an hinreichendem Lohn erzeugt. Es ist die Armuth der Erwerbsfähigen, die sich neben die Armuth der Erwerbs- unfähigen hinstellt, und die durch die Ausdehnung der Industrie zu einem allgemeinen Zustand innerhalb der nichtbesitzenden Classe ent- wickelt, namentlich im Anfange des Auftretens der Maschinen. Dieser Zustand heißt die Massenarmuth oder der Pauperismus. Mit ihm scheiden sich innerhalb des allgemeinen Begriffes der Armuth die zwei großen Elemente desselben, die eigentliche wirthschaftliche Armuth mit Erwerbsunfähigkeit, und die Anfänge der gesellschaftlichen Armuth mit Erwerbsfähigkeit. Jene ist dauernd, diese ist vorübergehend; jener kann nur durch Unterstützung geholfen werden, diese fordert keine Unterstützung, sondern Arbeit und Erwerb. Im Anfange, fast ein halbes Jahrhundert lang, gehen sie nun in einander über, und es herrscht die Vorstellung, daß sie beide mit gleichartigen Maßregeln zu bekämpfen sind. Während durch das letztere die Gesetzgebung daher ihren alten Standpunkt für alle Formen beibehält, kommen in Theorie und wirklichem Leben doch endlich die tiefen Verschiedenheiten beider zur Geltung, und das Armenwesen wird damit Gegenstand einer ein- gehenden Behandlung. Es erzeugt dasselbe zuerst, und zwar schon seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts eine sehr reiche Literatur, und der Charakter derselben ist fast in ganz Europa derselbe. Sie leidet allerdings wegen des Mangels der gesellschaftlichen Auffassung unter der fortgesetzten Verschmelzung beider Formen der Armuth, und bildet daher auch nur sehr langsam und unsicher den Gedanken, daß die Hülfe der gesellschaftlichen Armuth überhaupt nicht in der organischen, sondern in der freien Verwaltung, dem Vereinswesen liege; allein dafür hat sie andererseits, namentlich in unserem Jahrhundert seit den dreißiger Jahren, ihren Blick erweitert, und, alle einzelnen Verhältnisse und Erscheinungen der Armuth selbständig betrachtend, ein System erzeugt, dessen hoher Werth unverkennbar ist. Der Charakter dieses Systems besteht darin, daß jeder einzelne Theil Gegenstand einer selbstän- digen Theorie und dem entsprechend auch nur selbständigen Verwaltung und Rechtsbildung geworden ist; daß die eigentliche Armenpflege, früher das einzige Gebiet des Armenwesens, jetzt selbst nur als ein Theil der- selben dasteht; und endlich daß die ganze Armenpflege auf jedem Punkte von der höheren socialen Idee der Entwicklung der gesellschaftlichen Bewegung durchdrungen ist, während die letztere wieder sich zu einem
Aus dieſer dritten Epoche geht nun die vierte hervor, indem mit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus dem Gewerbe die Induſtrie und mit ihr die lokale Uebervölkerung entſteht, von denen die erſte durch Arbeitsmangel den Mangel an Unterhalt, die zweite durch Theue- rung den Mangel an hinreichendem Lohn erzeugt. Es iſt die Armuth der Erwerbsfähigen, die ſich neben die Armuth der Erwerbs- unfähigen hinſtellt, und die durch die Ausdehnung der Induſtrie zu einem allgemeinen Zuſtand innerhalb der nichtbeſitzenden Claſſe ent- wickelt, namentlich im Anfange des Auftretens der Maſchinen. Dieſer Zuſtand heißt die Maſſenarmuth oder der Pauperismus. Mit ihm ſcheiden ſich innerhalb des allgemeinen Begriffes der Armuth die zwei großen Elemente deſſelben, die eigentliche wirthſchaftliche Armuth mit Erwerbsunfähigkeit, und die Anfänge der geſellſchaftlichen Armuth mit Erwerbsfähigkeit. Jene iſt dauernd, dieſe iſt vorübergehend; jener kann nur durch Unterſtützung geholfen werden, dieſe fordert keine Unterſtützung, ſondern Arbeit und Erwerb. Im Anfange, faſt ein halbes Jahrhundert lang, gehen ſie nun in einander über, und es herrſcht die Vorſtellung, daß ſie beide mit gleichartigen Maßregeln zu bekämpfen ſind. Während durch das letztere die Geſetzgebung daher ihren alten Standpunkt für alle Formen beibehält, kommen in Theorie und wirklichem Leben doch endlich die tiefen Verſchiedenheiten beider zur Geltung, und das Armenweſen wird damit Gegenſtand einer ein- gehenden Behandlung. Es erzeugt daſſelbe zuerſt, und zwar ſchon ſeit dem Ende des vorigen Jahrhunderts eine ſehr reiche Literatur, und der Charakter derſelben iſt faſt in ganz Europa derſelbe. Sie leidet allerdings wegen des Mangels der geſellſchaftlichen Auffaſſung unter der fortgeſetzten Verſchmelzung beider Formen der Armuth, und bildet daher auch nur ſehr langſam und unſicher den Gedanken, daß die Hülfe der geſellſchaftlichen Armuth überhaupt nicht in der organiſchen, ſondern in der freien Verwaltung, dem Vereinsweſen liege; allein dafür hat ſie andererſeits, namentlich in unſerem Jahrhundert ſeit den dreißiger Jahren, ihren Blick erweitert, und, alle einzelnen Verhältniſſe und Erſcheinungen der Armuth ſelbſtändig betrachtend, ein Syſtem erzeugt, deſſen hoher Werth unverkennbar iſt. Der Charakter dieſes Syſtems beſteht darin, daß jeder einzelne Theil Gegenſtand einer ſelbſtän- digen Theorie und dem entſprechend auch nur ſelbſtändigen Verwaltung und Rechtsbildung geworden iſt; daß die eigentliche Armenpflege, früher das einzige Gebiet des Armenweſens, jetzt ſelbſt nur als ein Theil der- ſelben daſteht; und endlich daß die ganze Armenpflege auf jedem Punkte von der höheren ſocialen Idee der Entwicklung der geſellſchaftlichen Bewegung durchdrungen iſt, während die letztere wieder ſich zu einem
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Aus dieſer dritten Epoche geht nun die vierte hervor, indem mit
dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus dem Gewerbe die Induſtrie
und mit ihr die lokale Uebervölkerung entſteht, von denen die erſte
durch Arbeitsmangel den Mangel an Unterhalt, die zweite durch Theue-
rung den Mangel an hinreichendem Lohn erzeugt. Es iſt die Armuth
der Erwerbsfähigen, die ſich neben die Armuth der Erwerbs-
unfähigen hinſtellt, und die durch die Ausdehnung der Induſtrie zu
einem allgemeinen Zuſtand innerhalb der nichtbeſitzenden Claſſe ent-
wickelt, namentlich im Anfange des Auftretens der Maſchinen. Dieſer
Zuſtand heißt die Maſſenarmuth oder der Pauperismus. Mit
ihm ſcheiden ſich innerhalb des allgemeinen Begriffes der Armuth die
zwei großen Elemente deſſelben, die eigentliche wirthſchaftliche Armuth
mit Erwerbsunfähigkeit, und die Anfänge der geſellſchaftlichen Armuth
mit Erwerbsfähigkeit. Jene iſt dauernd, dieſe iſt vorübergehend; jener
kann nur durch Unterſtützung geholfen werden, dieſe fordert keine
Unterſtützung, ſondern Arbeit und Erwerb. Im Anfange, faſt ein
halbes Jahrhundert lang, gehen ſie nun in einander über, und es
herrſcht die Vorſtellung, daß ſie beide mit gleichartigen Maßregeln zu
bekämpfen ſind. Während durch das letztere die Geſetzgebung daher
ihren alten Standpunkt für alle Formen beibehält, kommen in Theorie
und wirklichem Leben doch endlich die tiefen Verſchiedenheiten beider
zur Geltung, und das Armenweſen wird damit Gegenſtand einer ein-
gehenden Behandlung. Es erzeugt daſſelbe zuerſt, und zwar ſchon ſeit
dem Ende des vorigen Jahrhunderts eine ſehr reiche Literatur, und
der Charakter derſelben iſt faſt in ganz Europa derſelbe. Sie leidet
allerdings wegen des Mangels der geſellſchaftlichen Auffaſſung unter
der fortgeſetzten Verſchmelzung beider Formen der Armuth, und bildet
daher auch nur ſehr langſam und unſicher den Gedanken, daß die Hülfe
der geſellſchaftlichen Armuth überhaupt nicht in der organiſchen, ſondern
in der freien Verwaltung, dem Vereinsweſen liege; allein dafür hat
ſie andererſeits, namentlich in unſerem Jahrhundert ſeit den dreißiger
Jahren, ihren Blick erweitert, und, alle einzelnen Verhältniſſe und
Erſcheinungen der Armuth ſelbſtändig betrachtend, ein Syſtem erzeugt,
deſſen hoher Werth unverkennbar iſt. Der Charakter dieſes Syſtems
beſteht darin, daß jeder einzelne Theil Gegenſtand einer ſelbſtän-
digen Theorie und dem entſprechend auch nur ſelbſtändigen Verwaltung
und Rechtsbildung geworden iſt; daß die eigentliche Armenpflege, früher
das einzige Gebiet des Armenweſens, jetzt ſelbſt nur als ein Theil der-
ſelben daſteht; und endlich daß die ganze Armenpflege auf jedem Punkte
von der höheren ſocialen Idee der Entwicklung der geſellſchaftlichen
Bewegung durchdrungen iſt, während die letztere wieder ſich zu einem
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/447>, abgerufen am 22.11.2024.
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