und in einem persönlichen Dasein und Willen zu vertreten. Es ist das Ich des Staats. Es kann kein Staat ohne ein solches selbständiges Oberhaupt sein; denn in ihm ist der Punkt gegeben, in welchem das Leben des Staats, sich über alle Besonderheit und alle Interessen er- hebend, seine höchste persönliche Einheit fühlt und zur Geltung bringt.
Das zweite Organ ist das des Staatswillens.
Wie der Staat an sich zuerst die Einheit einzelner Persönlichkeiten ist, so kann der Staatswille auch zuerst der rein persönliche Wille des Staatsoberhaupts sein. Allein da jede einzelne Persönlichkeit zugleich ihrem Wesen nach selbstbestimmt ist, so ist der Wille des Staats so lange ein unorganischer, als dieß Moment der individuellen Selbst- bestimmung nicht in den Staatswillen aufgenommen ist. Die Aner- kennung dieser Selbstbestimmung des Einzelnen innerhalb der Einheit des Staats nennen wir die Freiheit. Der Staatswille ist daher erst dann ein organischer, wenn er ein freier ist. Die Aufnahme der indi- viduellen Selbstbestimmung in den persönlichen Willen des Staats fordert einen Organismus, und die Bildung des einheitlichen Willens aus der Selbstbestimmung aller Einzelnen ist nothwendig ein Proceß. Jenen Organismus demnach, der vermöge dieses Processes den freien Staatswillen bildet, nennen wir die Verfassung. Einen Staats- willen hat jeder Staat; aber zum freien Staatswillen gelangt er erst nach einer langen, unter den härtesten Entwicklungskämpfen vor sich gehenden Arbeit der Geschichte. Dieser Entwicklungskampf ist die Ge- schichte der Freiheit; die Erkenntniß, daß auch hier große Gesetze walten, und das Verständniß dieser Gesetze bildet die Wissenschaft dieser Geschichte.
Das dritte Organ ist das der That des Staats.
Die That des Staats entsteht, indem der in der Verfassung organisch gebildete Wille desselben sich in den thatsächlichen Lebensver- hältnissen verwirklicht. Diese nun sind in Land und Volk, Wirthschaft und Gesellschaft verschieden und ewig wechselnd. Der Wille des Staats dagegen ist wie jeder Wille, eine Einheit. Zwischen diesen beiden großen Faktoren, der Besonderheit des thatsächlichen Daseins, das den Staat erfüllt, und der Einheit seines Willens, welche jene beherrscht, besteht daher ein beständiger, nie ruhender Kampf, in welchem sich gegenseitig beide Elemente im Dienste der höchsten Idee der persönlichen Entwicklung mit oder ohne Bewußtsein gegenseitig erfüllen, ersetzen und der Zukunft entgegendrängen. Und dieser wunderbare Proceß des Werdens, diese hö[ch]ste Form des Kampfes zwischen Natur und Persön- lichkeit, ist das Leben des Staats. Sein Verständniß aber, auf das organische Verständniß der einzelnen ihn bestimmenden Faktoren zurück-
und in einem perſönlichen Daſein und Willen zu vertreten. Es iſt das Ich des Staats. Es kann kein Staat ohne ein ſolches ſelbſtändiges Oberhaupt ſein; denn in ihm iſt der Punkt gegeben, in welchem das Leben des Staats, ſich über alle Beſonderheit und alle Intereſſen er- hebend, ſeine höchſte perſönliche Einheit fühlt und zur Geltung bringt.
Das zweite Organ iſt das des Staatswillens.
Wie der Staat an ſich zuerſt die Einheit einzelner Perſönlichkeiten iſt, ſo kann der Staatswille auch zuerſt der rein perſönliche Wille des Staatsoberhaupts ſein. Allein da jede einzelne Perſönlichkeit zugleich ihrem Weſen nach ſelbſtbeſtimmt iſt, ſo iſt der Wille des Staats ſo lange ein unorganiſcher, als dieß Moment der individuellen Selbſt- beſtimmung nicht in den Staatswillen aufgenommen iſt. Die Aner- kennung dieſer Selbſtbeſtimmung des Einzelnen innerhalb der Einheit des Staats nennen wir die Freiheit. Der Staatswille iſt daher erſt dann ein organiſcher, wenn er ein freier iſt. Die Aufnahme der indi- viduellen Selbſtbeſtimmung in den perſönlichen Willen des Staats fordert einen Organismus, und die Bildung des einheitlichen Willens aus der Selbſtbeſtimmung aller Einzelnen iſt nothwendig ein Proceß. Jenen Organismus demnach, der vermöge dieſes Proceſſes den freien Staatswillen bildet, nennen wir die Verfaſſung. Einen Staats- willen hat jeder Staat; aber zum freien Staatswillen gelangt er erſt nach einer langen, unter den härteſten Entwicklungskämpfen vor ſich gehenden Arbeit der Geſchichte. Dieſer Entwicklungskampf iſt die Ge- ſchichte der Freiheit; die Erkenntniß, daß auch hier große Geſetze walten, und das Verſtändniß dieſer Geſetze bildet die Wiſſenſchaft dieſer Geſchichte.
Das dritte Organ iſt das der That des Staats.
Die That des Staats entſteht, indem der in der Verfaſſung organiſch gebildete Wille deſſelben ſich in den thatſächlichen Lebensver- hältniſſen verwirklicht. Dieſe nun ſind in Land und Volk, Wirthſchaft und Geſellſchaft verſchieden und ewig wechſelnd. Der Wille des Staats dagegen iſt wie jeder Wille, eine Einheit. Zwiſchen dieſen beiden großen Faktoren, der Beſonderheit des thatſächlichen Daſeins, das den Staat erfüllt, und der Einheit ſeines Willens, welche jene beherrſcht, beſteht daher ein beſtändiger, nie ruhender Kampf, in welchem ſich gegenſeitig beide Elemente im Dienſte der höchſten Idee der perſönlichen Entwicklung mit oder ohne Bewußtſein gegenſeitig erfüllen, erſetzen und der Zukunft entgegendrängen. Und dieſer wunderbare Proceß des Werdens, dieſe hö[ch]ſte Form des Kampfes zwiſchen Natur und Perſön- lichkeit, iſt das Leben des Staats. Sein Verſtändniß aber, auf das organiſche Verſtändniß der einzelnen ihn beſtimmenden Faktoren zurück-
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[6/0030]
und in einem perſönlichen Daſein und Willen zu vertreten. Es iſt das
Ich des Staats. Es kann kein Staat ohne ein ſolches ſelbſtändiges
Oberhaupt ſein; denn in ihm iſt der Punkt gegeben, in welchem das
Leben des Staats, ſich über alle Beſonderheit und alle Intereſſen er-
hebend, ſeine höchſte perſönliche Einheit fühlt und zur Geltung bringt.
Das zweite Organ iſt das des Staatswillens.
Wie der Staat an ſich zuerſt die Einheit einzelner Perſönlichkeiten
iſt, ſo kann der Staatswille auch zuerſt der rein perſönliche Wille des
Staatsoberhaupts ſein. Allein da jede einzelne Perſönlichkeit zugleich
ihrem Weſen nach ſelbſtbeſtimmt iſt, ſo iſt der Wille des Staats ſo
lange ein unorganiſcher, als dieß Moment der individuellen Selbſt-
beſtimmung nicht in den Staatswillen aufgenommen iſt. Die Aner-
kennung dieſer Selbſtbeſtimmung des Einzelnen innerhalb der Einheit
des Staats nennen wir die Freiheit. Der Staatswille iſt daher erſt
dann ein organiſcher, wenn er ein freier iſt. Die Aufnahme der indi-
viduellen Selbſtbeſtimmung in den perſönlichen Willen des Staats
fordert einen Organismus, und die Bildung des einheitlichen Willens
aus der Selbſtbeſtimmung aller Einzelnen iſt nothwendig ein Proceß.
Jenen Organismus demnach, der vermöge dieſes Proceſſes den freien
Staatswillen bildet, nennen wir die Verfaſſung. Einen Staats-
willen hat jeder Staat; aber zum freien Staatswillen gelangt er erſt
nach einer langen, unter den härteſten Entwicklungskämpfen vor ſich
gehenden Arbeit der Geſchichte. Dieſer Entwicklungskampf iſt die Ge-
ſchichte der Freiheit; die Erkenntniß, daß auch hier große Geſetze
walten, und das Verſtändniß dieſer Geſetze bildet die Wiſſenſchaft
dieſer Geſchichte.
Das dritte Organ iſt das der That des Staats.
Die That des Staats entſteht, indem der in der Verfaſſung
organiſch gebildete Wille deſſelben ſich in den thatſächlichen Lebensver-
hältniſſen verwirklicht. Dieſe nun ſind in Land und Volk, Wirthſchaft
und Geſellſchaft verſchieden und ewig wechſelnd. Der Wille des Staats
dagegen iſt wie jeder Wille, eine Einheit. Zwiſchen dieſen beiden
großen Faktoren, der Beſonderheit des thatſächlichen Daſeins, das den
Staat erfüllt, und der Einheit ſeines Willens, welche jene beherrſcht,
beſteht daher ein beſtändiger, nie ruhender Kampf, in welchem ſich
gegenſeitig beide Elemente im Dienſte der höchſten Idee der perſönlichen
Entwicklung mit oder ohne Bewußtſein gegenſeitig erfüllen, erſetzen
und der Zukunft entgegendrängen. Und dieſer wunderbare Proceß des
Werdens, dieſe höchſte Form des Kampfes zwiſchen Natur und Perſön-
lichkeit, iſt das Leben des Staats. Sein Verſtändniß aber, auf das
organiſche Verſtändniß der einzelnen ihn beſtimmenden Faktoren zurück-
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/30>, abgerufen am 24.11.2024.
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