Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

Bild:
<< vorherige Seite
A. Die Rechtsbildung des Versicherungswesens und sein Fortschritt.

Die Rechtsbildung des ganzen Versicherungswesens beruht nämlich
darauf, daß in jeder Versicherung zwei Elemente zusammenwirken. Das
erste dieser Elemente ist der privatrechtliche Versicherungsvertrag, das
zweite ist die öffentliche Funktion des Versicherungswesens als Theil
der organischen Verwaltung der Volkswirthschaft. In dem ersten steckt
das Sonderinteresse der Unternehmer, in dem zweiten die Forderung
des öffentlichen Interesses, die auch hier in scharfen Gegensatz kommen
können. Der gegebene Rechtszustand des Versicherungswesens besteht
deßhalb wesentlich in dem zeitweiligen Verhältniß beider zu einander;
die Entwicklung in dem allmähligen Siege des letzteren über das erstere.
Der Gang derselben aber bis zum gegenwärtigen Zustand ist in seinen
Hauptpunkten folgender.

Die Versicherung beginnt allerdings als reiner Vertrag in den
Seeversicherungen; allein fast gleichzeitig wird dieß Vertragsrecht, na-
mentlich im Anschluß an das Seerecht, als eine öffentliche Angelegen-
heit anerkannt, und dadurch Gegenstand der Gesetzgebung in den alten
Assecuranzordnungen. Das ist die erste Epoche der Rechtsbildung. Sie
bleibt jedoch dabei stehen, daß sich die Gesetzgebung nur auf die Be-
stimmung des rechtlichen Inhalts dieses Versicherungsvertrages be-
schränkt
, und sich um die Verwaltung der Versicherungsanstalten
noch gar nicht kümmert. Die zweite Epoche entsteht da, wo der Staat
die polizeilichen Brandschadenanstalten einführt; in diesen ver-
schwindet wieder das Vertragsrecht und an seine Stelle tritt das Ver-
ordnungsrecht, und der Staat verwaltet das Versicherungswesen durch
seine Beamtete, entweder ausschließlich, oder unter Zuziehung der
Betheiligten (Deutschland, achtzehntes Jahrhundert). Da jedoch die
Seeversicherung davon ausgeschlossen bleibt, so geschieht es, daß für
das letztere eine ausführliche Jurisprudenz entsteht, während sie für
das Feuerversicherungswesen bis auf den heutigen Tag mangelt. Trotz
dem erzeugt diese polizeiliche Epoche theils durch den Einfluß der Lite-
ratur, theils durch specielle Gesetze das Verständniß für die wichtige
öffentliche Funktion alles Versicherungswesens. Die Regierungen er-
kennen die Nothwendigkeit, dasselbe im öffentlichen Interesse ihrer
Oberaufsicht zu unterwerfen. Das ist der Grund, weßhalb sich der
unfreie Zustand der gesetzlichen Zwangsversicherungsanstalten noch theil-
weise erhält. Da aber, wo die Vereine an ihre Stelle treten, und
das Versicherungswesen in die Hand nehmen, mangelt der Verwaltung
Erfahrung und Theorie, um dasselbe einer ausreichenden Controle zu
unterziehen, und sie muß sich deßhalb genügen lassen, jene Oberauf-

A. Die Rechtsbildung des Verſicherungsweſens und ſein Fortſchritt.

Die Rechtsbildung des ganzen Verſicherungsweſens beruht nämlich
darauf, daß in jeder Verſicherung zwei Elemente zuſammenwirken. Das
erſte dieſer Elemente iſt der privatrechtliche Verſicherungsvertrag, das
zweite iſt die öffentliche Funktion des Verſicherungsweſens als Theil
der organiſchen Verwaltung der Volkswirthſchaft. In dem erſten ſteckt
das Sonderintereſſe der Unternehmer, in dem zweiten die Forderung
des öffentlichen Intereſſes, die auch hier in ſcharfen Gegenſatz kommen
können. Der gegebene Rechtszuſtand des Verſicherungsweſens beſteht
deßhalb weſentlich in dem zeitweiligen Verhältniß beider zu einander;
die Entwicklung in dem allmähligen Siege des letzteren über das erſtere.
Der Gang derſelben aber bis zum gegenwärtigen Zuſtand iſt in ſeinen
Hauptpunkten folgender.

Die Verſicherung beginnt allerdings als reiner Vertrag in den
Seeverſicherungen; allein faſt gleichzeitig wird dieß Vertragsrecht, na-
mentlich im Anſchluß an das Seerecht, als eine öffentliche Angelegen-
heit anerkannt, und dadurch Gegenſtand der Geſetzgebung in den alten
Aſſecuranzordnungen. Das iſt die erſte Epoche der Rechtsbildung. Sie
bleibt jedoch dabei ſtehen, daß ſich die Geſetzgebung nur auf die Be-
ſtimmung des rechtlichen Inhalts dieſes Verſicherungsvertrages be-
ſchränkt
, und ſich um die Verwaltung der Verſicherungsanſtalten
noch gar nicht kümmert. Die zweite Epoche entſteht da, wo der Staat
die polizeilichen Brandſchadenanſtalten einführt; in dieſen ver-
ſchwindet wieder das Vertragsrecht und an ſeine Stelle tritt das Ver-
ordnungsrecht, und der Staat verwaltet das Verſicherungsweſen durch
ſeine Beamtete, entweder ausſchließlich, oder unter Zuziehung der
Betheiligten (Deutſchland, achtzehntes Jahrhundert). Da jedoch die
Seeverſicherung davon ausgeſchloſſen bleibt, ſo geſchieht es, daß für
das letztere eine ausführliche Jurisprudenz entſteht, während ſie für
das Feuerverſicherungsweſen bis auf den heutigen Tag mangelt. Trotz
dem erzeugt dieſe polizeiliche Epoche theils durch den Einfluß der Lite-
ratur, theils durch ſpecielle Geſetze das Verſtändniß für die wichtige
öffentliche Funktion alles Verſicherungsweſens. Die Regierungen er-
kennen die Nothwendigkeit, daſſelbe im öffentlichen Intereſſe ihrer
Oberaufſicht zu unterwerfen. Das iſt der Grund, weßhalb ſich der
unfreie Zuſtand der geſetzlichen Zwangsverſicherungsanſtalten noch theil-
weiſe erhält. Da aber, wo die Vereine an ihre Stelle treten, und
das Verſicherungsweſen in die Hand nehmen, mangelt der Verwaltung
Erfahrung und Theorie, um daſſelbe einer ausreichenden Controle zu
unterziehen, und ſie muß ſich deßhalb genügen laſſen, jene Oberauf-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0193" n="169"/>
                <div n="6">
                  <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">A.</hi> Die Rechtsbildung des Ver&#x017F;icherungswe&#x017F;ens und &#x017F;ein Fort&#x017F;chritt.</hi> </head><lb/>
                  <p>Die Rechtsbildung des ganzen Ver&#x017F;icherungswe&#x017F;ens beruht nämlich<lb/>
darauf, daß in jeder Ver&#x017F;icherung zwei Elemente zu&#x017F;ammenwirken. Das<lb/>
er&#x017F;te die&#x017F;er Elemente i&#x017F;t der privatrechtliche Ver&#x017F;icherungsvertrag, das<lb/>
zweite i&#x017F;t die öffentliche Funktion des Ver&#x017F;icherungswe&#x017F;ens als Theil<lb/>
der organi&#x017F;chen Verwaltung der Volkswirth&#x017F;chaft. In dem er&#x017F;ten &#x017F;teckt<lb/>
das Sonderintere&#x017F;&#x017F;e der Unternehmer, in dem zweiten die Forderung<lb/>
des öffentlichen Intere&#x017F;&#x017F;es, die auch hier in &#x017F;charfen Gegen&#x017F;atz kommen<lb/>
können. Der gegebene Rechtszu&#x017F;tand des Ver&#x017F;icherungswe&#x017F;ens be&#x017F;teht<lb/>
deßhalb we&#x017F;entlich in dem zeitweiligen Verhältniß beider zu einander;<lb/>
die Entwicklung in dem allmähligen Siege des letzteren über das er&#x017F;tere.<lb/>
Der Gang der&#x017F;elben aber bis zum gegenwärtigen Zu&#x017F;tand i&#x017F;t in &#x017F;einen<lb/>
Hauptpunkten folgender.</p><lb/>
                  <p>Die Ver&#x017F;icherung <hi rendition="#g">beginnt</hi> allerdings als reiner Vertrag in den<lb/>
Seever&#x017F;icherungen; allein fa&#x017F;t gleichzeitig wird dieß Vertragsrecht, na-<lb/>
mentlich im An&#x017F;chluß an das Seerecht, als eine öffentliche Angelegen-<lb/>
heit anerkannt, und dadurch Gegen&#x017F;tand der Ge&#x017F;etzgebung in den alten<lb/>
A&#x017F;&#x017F;ecuranzordnungen. Das i&#x017F;t die er&#x017F;te Epoche der Rechtsbildung. Sie<lb/>
bleibt jedoch dabei &#x017F;tehen, daß &#x017F;ich die Ge&#x017F;etzgebung nur auf die Be-<lb/>
&#x017F;timmung des rechtlichen Inhalts die&#x017F;es Ver&#x017F;icherungsvertrages <hi rendition="#g">be-<lb/>
&#x017F;chränkt</hi>, und &#x017F;ich um die <hi rendition="#g">Verwaltung</hi> der Ver&#x017F;icherungsan&#x017F;talten<lb/>
noch gar nicht kümmert. Die zweite Epoche ent&#x017F;teht da, wo der Staat<lb/>
die <hi rendition="#g">polizeilichen</hi> Brand&#x017F;chadenan&#x017F;talten einführt; in die&#x017F;en ver-<lb/>
&#x017F;chwindet wieder das Vertragsrecht und an &#x017F;eine Stelle tritt das Ver-<lb/>
ordnungsrecht, und der Staat verwaltet das Ver&#x017F;icherungswe&#x017F;en durch<lb/>
&#x017F;eine Beamtete, entweder aus&#x017F;chließlich, oder unter Zuziehung der<lb/>
Betheiligten (Deut&#x017F;chland, achtzehntes Jahrhundert). Da jedoch die<lb/>
Seever&#x017F;icherung davon ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en bleibt, &#x017F;o ge&#x017F;chieht es, daß für<lb/>
das letztere eine ausführliche Jurisprudenz ent&#x017F;teht, während &#x017F;ie für<lb/>
das Feuerver&#x017F;icherungswe&#x017F;en bis auf den heutigen Tag mangelt. Trotz<lb/>
dem erzeugt die&#x017F;e polizeiliche Epoche theils durch den Einfluß der Lite-<lb/>
ratur, theils durch &#x017F;pecielle Ge&#x017F;etze das Ver&#x017F;tändniß für die wichtige<lb/>
öffentliche Funktion alles Ver&#x017F;icherungswe&#x017F;ens. Die Regierungen er-<lb/>
kennen die Nothwendigkeit, da&#x017F;&#x017F;elbe im öffentlichen Intere&#x017F;&#x017F;e ihrer<lb/>
Oberauf&#x017F;icht zu unterwerfen. Das i&#x017F;t der Grund, weßhalb &#x017F;ich der<lb/>
unfreie Zu&#x017F;tand der ge&#x017F;etzlichen Zwangsver&#x017F;icherungsan&#x017F;talten noch theil-<lb/>
wei&#x017F;e erhält. Da aber, wo die <hi rendition="#g">Vereine</hi> an ihre Stelle treten, und<lb/>
das Ver&#x017F;icherungswe&#x017F;en in die Hand nehmen, mangelt der Verwaltung<lb/>
Erfahrung und Theorie, um da&#x017F;&#x017F;elbe einer ausreichenden Controle zu<lb/>
unterziehen, und &#x017F;ie muß &#x017F;ich deßhalb genügen la&#x017F;&#x017F;en, jene Oberauf-<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[169/0193] A. Die Rechtsbildung des Verſicherungsweſens und ſein Fortſchritt. Die Rechtsbildung des ganzen Verſicherungsweſens beruht nämlich darauf, daß in jeder Verſicherung zwei Elemente zuſammenwirken. Das erſte dieſer Elemente iſt der privatrechtliche Verſicherungsvertrag, das zweite iſt die öffentliche Funktion des Verſicherungsweſens als Theil der organiſchen Verwaltung der Volkswirthſchaft. In dem erſten ſteckt das Sonderintereſſe der Unternehmer, in dem zweiten die Forderung des öffentlichen Intereſſes, die auch hier in ſcharfen Gegenſatz kommen können. Der gegebene Rechtszuſtand des Verſicherungsweſens beſteht deßhalb weſentlich in dem zeitweiligen Verhältniß beider zu einander; die Entwicklung in dem allmähligen Siege des letzteren über das erſtere. Der Gang derſelben aber bis zum gegenwärtigen Zuſtand iſt in ſeinen Hauptpunkten folgender. Die Verſicherung beginnt allerdings als reiner Vertrag in den Seeverſicherungen; allein faſt gleichzeitig wird dieß Vertragsrecht, na- mentlich im Anſchluß an das Seerecht, als eine öffentliche Angelegen- heit anerkannt, und dadurch Gegenſtand der Geſetzgebung in den alten Aſſecuranzordnungen. Das iſt die erſte Epoche der Rechtsbildung. Sie bleibt jedoch dabei ſtehen, daß ſich die Geſetzgebung nur auf die Be- ſtimmung des rechtlichen Inhalts dieſes Verſicherungsvertrages be- ſchränkt, und ſich um die Verwaltung der Verſicherungsanſtalten noch gar nicht kümmert. Die zweite Epoche entſteht da, wo der Staat die polizeilichen Brandſchadenanſtalten einführt; in dieſen ver- ſchwindet wieder das Vertragsrecht und an ſeine Stelle tritt das Ver- ordnungsrecht, und der Staat verwaltet das Verſicherungsweſen durch ſeine Beamtete, entweder ausſchließlich, oder unter Zuziehung der Betheiligten (Deutſchland, achtzehntes Jahrhundert). Da jedoch die Seeverſicherung davon ausgeſchloſſen bleibt, ſo geſchieht es, daß für das letztere eine ausführliche Jurisprudenz entſteht, während ſie für das Feuerverſicherungsweſen bis auf den heutigen Tag mangelt. Trotz dem erzeugt dieſe polizeiliche Epoche theils durch den Einfluß der Lite- ratur, theils durch ſpecielle Geſetze das Verſtändniß für die wichtige öffentliche Funktion alles Verſicherungsweſens. Die Regierungen er- kennen die Nothwendigkeit, daſſelbe im öffentlichen Intereſſe ihrer Oberaufſicht zu unterwerfen. Das iſt der Grund, weßhalb ſich der unfreie Zuſtand der geſetzlichen Zwangsverſicherungsanſtalten noch theil- weiſe erhält. Da aber, wo die Vereine an ihre Stelle treten, und das Verſicherungsweſen in die Hand nehmen, mangelt der Verwaltung Erfahrung und Theorie, um daſſelbe einer ausreichenden Controle zu unterziehen, und ſie muß ſich deßhalb genügen laſſen, jene Oberauf-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/193
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/193>, abgerufen am 19.11.2024.