der Polizei als Wohlfahrts- und als Sicherheitspolizei auf; aber da gerade durch diese Scheidung die Polizei jetzt alle Beziehungen der Regierung zum Volke umfaßt, so entsteht die Vorstellung, daß die Polizeiwissenschaft eigentlich identisch mit der Staatswissenschaft sei, während man sich andererseits nicht läugnen kann, daß sie dieses Ge- biet nicht erschöpft. Daher große Verwirrung; bald Identificirung mit dem öffentlichen Recht überhaupt, bald mit den Cameralwissenschaften, bald auch Auffassung derselben als das von Finanzen und Volkswirth- schaft geschiedene selbständige, aber alle Verhältnisse umfassende ge- sammte Gebiet der inneren Verwaltung überhaupt, deren Be- griff und Organismus man noch nicht kennt. Dieser Standpunkt, von Heumann und Delamare begründet, von Justi und Sonnenfels durch- geführt, und von Jacob und Mohl beibehalten, bleibt in der Theorie bis auf die neueste Zeit, während das wirkliche Leben mit dem Beginne unseres Jahrhunderts eine ganz neue Bahn betritt. Auf dieser nun ist es die Entwicklung des öffentlichen Rechts, welche den gegenwärtigen Begriff der Polizei begründet hat.
Der Charakter des öffentlichen Rechts im vorigen Jahrhundert ist nämlich die Verschmelzung von Gesetzgebung und Verwaltung, und damit Allgewalt des Staats. Mit unserem Jahrhundert scheiden sich beide. Es tritt das große Princip auf, daß es das Gesetz ist, welches alle Thätigkeiten der Staatsgewalt ordnen soll. Damit entsteht der selbständige Begriff der vollziehenden Gewalt, und ihre erste und ver- ständlichste Form ist die der Regierung. Offenbar nun ist die Re- gierung selbst keine bloße Polizei, sondern die Polizei erscheint vielmehr als ein Theil, eine Funktion und ein Recht der Regierung. Dieser Satz bildet namentlich das neue Staatsrecht der Deutschen, wenn auch noch unter dem Gesichtspunkt der "Polizeihoheit" aus. Damit denn entsteht die Frage, welchen Theil der Regierungsfunktion dann der Polizei jetzt zukomme. Das aber fand man nicht, weil eben der all- gemeine Begriff, sowohl der vollziehenden Gewalt, als der systematische Gedanke der inneren Verwaltung fehlte. Und so gab es hier zwar das Gefühl des Ungenügens des Alten, aber keine Gestaltung des Neuen.
In der That war dieß letztere auch nicht leicht. Drei Gründe machten es hauptsächlich schwierig. Erstlich erschien die Polizei faktisch zugleich als ein Organ der namentlich strafrechtlichen Verwaltung, und die Gränze zwischen Polizei und Gericht war schon hier schwer zu ziehen. Zweitens war es nicht zu verkennen, daß bei aller Herrschaft des Ge- setzes der Polizei doch eine gewisse Befugniß zur Erlassung von gül- tigen Vorschriften auch außerhalb des Gesetzes zugesprochen werden müsse, wenn sie ihre Thätigkeit vollziehen solle. Und drittens war es
der Polizei als Wohlfahrts- und als Sicherheitspolizei auf; aber da gerade durch dieſe Scheidung die Polizei jetzt alle Beziehungen der Regierung zum Volke umfaßt, ſo entſteht die Vorſtellung, daß die Polizeiwiſſenſchaft eigentlich identiſch mit der Staatswiſſenſchaft ſei, während man ſich andererſeits nicht läugnen kann, daß ſie dieſes Ge- biet nicht erſchöpft. Daher große Verwirrung; bald Identificirung mit dem öffentlichen Recht überhaupt, bald mit den Cameralwiſſenſchaften, bald auch Auffaſſung derſelben als das von Finanzen und Volkswirth- ſchaft geſchiedene ſelbſtändige, aber alle Verhältniſſe umfaſſende ge- ſammte Gebiet der inneren Verwaltung überhaupt, deren Be- griff und Organismus man noch nicht kennt. Dieſer Standpunkt, von Heumann und Delamare begründet, von Juſti und Sonnenfels durch- geführt, und von Jacob und Mohl beibehalten, bleibt in der Theorie bis auf die neueſte Zeit, während das wirkliche Leben mit dem Beginne unſeres Jahrhunderts eine ganz neue Bahn betritt. Auf dieſer nun iſt es die Entwicklung des öffentlichen Rechts, welche den gegenwärtigen Begriff der Polizei begründet hat.
Der Charakter des öffentlichen Rechts im vorigen Jahrhundert iſt nämlich die Verſchmelzung von Geſetzgebung und Verwaltung, und damit Allgewalt des Staats. Mit unſerem Jahrhundert ſcheiden ſich beide. Es tritt das große Princip auf, daß es das Geſetz iſt, welches alle Thätigkeiten der Staatsgewalt ordnen ſoll. Damit entſteht der ſelbſtändige Begriff der vollziehenden Gewalt, und ihre erſte und ver- ſtändlichſte Form iſt die der Regierung. Offenbar nun iſt die Re- gierung ſelbſt keine bloße Polizei, ſondern die Polizei erſcheint vielmehr als ein Theil, eine Funktion und ein Recht der Regierung. Dieſer Satz bildet namentlich das neue Staatsrecht der Deutſchen, wenn auch noch unter dem Geſichtspunkt der „Polizeihoheit“ aus. Damit denn entſteht die Frage, welchen Theil der Regierungsfunktion dann der Polizei jetzt zukomme. Das aber fand man nicht, weil eben der all- gemeine Begriff, ſowohl der vollziehenden Gewalt, als der ſyſtematiſche Gedanke der inneren Verwaltung fehlte. Und ſo gab es hier zwar das Gefühl des Ungenügens des Alten, aber keine Geſtaltung des Neuen.
In der That war dieß letztere auch nicht leicht. Drei Gründe machten es hauptſächlich ſchwierig. Erſtlich erſchien die Polizei faktiſch zugleich als ein Organ der namentlich ſtrafrechtlichen Verwaltung, und die Gränze zwiſchen Polizei und Gericht war ſchon hier ſchwer zu ziehen. Zweitens war es nicht zu verkennen, daß bei aller Herrſchaft des Ge- ſetzes der Polizei doch eine gewiſſe Befugniß zur Erlaſſung von gül- tigen Vorſchriften auch außerhalb des Geſetzes zugeſprochen werden müſſe, wenn ſie ihre Thätigkeit vollziehen ſolle. Und drittens war es
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[96/0120]
der Polizei als Wohlfahrts- und als Sicherheitspolizei auf; aber da
gerade durch dieſe Scheidung die Polizei jetzt alle Beziehungen der
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Polizeiwiſſenſchaft eigentlich identiſch mit der Staatswiſſenſchaft ſei,
während man ſich andererſeits nicht läugnen kann, daß ſie dieſes Ge-
biet nicht erſchöpft. Daher große Verwirrung; bald Identificirung mit
dem öffentlichen Recht überhaupt, bald mit den Cameralwiſſenſchaften,
bald auch Auffaſſung derſelben als das von Finanzen und Volkswirth-
ſchaft geſchiedene ſelbſtändige, aber alle Verhältniſſe umfaſſende ge-
ſammte Gebiet der inneren Verwaltung überhaupt, deren Be-
griff und Organismus man noch nicht kennt. Dieſer Standpunkt, von
Heumann und Delamare begründet, von Juſti und Sonnenfels durch-
geführt, und von Jacob und Mohl beibehalten, bleibt in der Theorie
bis auf die neueſte Zeit, während das wirkliche Leben mit dem Beginne
unſeres Jahrhunderts eine ganz neue Bahn betritt. Auf dieſer nun
iſt es die Entwicklung des öffentlichen Rechts, welche den gegenwärtigen
Begriff der Polizei begründet hat.
Der Charakter des öffentlichen Rechts im vorigen Jahrhundert iſt
nämlich die Verſchmelzung von Geſetzgebung und Verwaltung, und
damit Allgewalt des Staats. Mit unſerem Jahrhundert ſcheiden ſich
beide. Es tritt das große Princip auf, daß es das Geſetz iſt, welches
alle Thätigkeiten der Staatsgewalt ordnen ſoll. Damit entſteht der
ſelbſtändige Begriff der vollziehenden Gewalt, und ihre erſte und ver-
ſtändlichſte Form iſt die der Regierung. Offenbar nun iſt die Re-
gierung ſelbſt keine bloße Polizei, ſondern die Polizei erſcheint vielmehr
als ein Theil, eine Funktion und ein Recht der Regierung. Dieſer
Satz bildet namentlich das neue Staatsrecht der Deutſchen, wenn auch
noch unter dem Geſichtspunkt der „Polizeihoheit“ aus. Damit denn
entſteht die Frage, welchen Theil der Regierungsfunktion dann der
Polizei jetzt zukomme. Das aber fand man nicht, weil eben der all-
gemeine Begriff, ſowohl der vollziehenden Gewalt, als der ſyſtematiſche
Gedanke der inneren Verwaltung fehlte. Und ſo gab es hier zwar das
Gefühl des Ungenügens des Alten, aber keine Geſtaltung des Neuen.
In der That war dieß letztere auch nicht leicht. Drei Gründe
machten es hauptſächlich ſchwierig. Erſtlich erſchien die Polizei faktiſch
zugleich als ein Organ der namentlich ſtrafrechtlichen Verwaltung, und
die Gränze zwiſchen Polizei und Gericht war ſchon hier ſchwer zu ziehen.
Zweitens war es nicht zu verkennen, daß bei aller Herrſchaft des Ge-
ſetzes der Polizei doch eine gewiſſe Befugniß zur Erlaſſung von gül-
tigen Vorſchriften auch außerhalb des Geſetzes zugeſprochen werden
müſſe, wenn ſie ihre Thätigkeit vollziehen ſolle. Und drittens war es
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/120>, abgerufen am 27.11.2024.
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