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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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Entwicklung der Gesetzgebung und der Organisation
des Gesundheitswesens bis zur Gegenwart
.

Es gehört ein hochgebildetes Volk dazu, um die Bedeutung des
Gesundheitswesens zu erkennen und die Forderungen desselben zur Gel-
tung zu bringen. Denn es bedarf eines lebendigen Gemeinwesens, um
den Werth, den die Gesundheit eines jeden Einzelnen für Alle und
umgekehrt hat, zu verstehen, und tiefgehender Wissenschaft, um die
allgemeinen Gründe allgemeiner Gesundheit und Krankheit zu erkennen.
Daher ist das Gesundheitswesen bei all seiner unendlichen Wichtigkeit
vielleicht der unentwickeltste Theil der ganzen inneren Verwaltung
Europa's.

Die Geschlechterordnung kennt nicht einmal die Heilkunde, geschweige
denn ein Gesundheitswesen. Die ständische Ordnung erzeugt die Wissenschaft
der Medicin, doch vermag sie keine Gesundheitspflege hervorzubringen,
indeß wird die Medicin, die sie (an den Universitäten) erzeugt, die
Mutter des Gesundheitswesens. Denn so wie die neue Staatenbildung
auftritt, nimmt sie das letztere in ihre Verwaltung auf. Anfangs
freilich nur örtlich und bloß als Seuchenpolizei, dann aber mit dem
achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert in großen umfassenden Gesetz-
gebungen und mit Errichtung eigener, den ganzen Staat umfassender
Sanitäts-Organisationen.

In dieser Beziehung scheiden sich nun zwei große Epochen. Die
erste reicht vom Anfange des vorigen Jahrhunderts bis zu den dreißiger
Jahren unserer Zeit. Ihr Charakter besteht darin, daß sie wesentlich
durch Regierungsorgane die Gesundheit in ihrem Sinne verwalten
will und sich daher zur eigentlichen bis auf das Leben des Individuums
herab erstreckenden Gesundheitspolizei gestaltet. Ihr Inhalt ist vor
allem Schutz der Gesundheit gegen unmittelbar und äußerlich drohende
Gefahren und eine möglichst allgemeine Organisation des Heilwesens,
die sie durch Verbindung der amtlichen Thätigkeit mit den medicinischen
Fakultäten zu erzielen sucht. Erst gegen Ende des vorigen Jahrhun-
derts wird der Gedanke lebendig, daß die Basis der Gesundheit in den
elementaren Verhältnissen liegt und daß der Schwerpunkt des Gesund-
heitswesens statt in der Polizei und der Heilung der bereits vorhan-
denen Krankheiten vielmehr in der Pflege der Bedingungen für die
Erhaltung der Gesundheit liege. Dieser Gedanke kommt zum
Durchbruche durch die Cholera, die in dieser Beziehung ein Segen für
Europa geworden ist. Die neueste Zeit hat diese Richtung zur socialen
Gesundheitspflege
entwickelt; sie beginnt, wenn auch langsam, den
großen Kampf mit den ewigen elementaren Feinden der Gesundheit bei

Entwicklung der Geſetzgebung und der Organiſation
des Geſundheitsweſens bis zur Gegenwart
.

Es gehört ein hochgebildetes Volk dazu, um die Bedeutung des
Geſundheitsweſens zu erkennen und die Forderungen deſſelben zur Gel-
tung zu bringen. Denn es bedarf eines lebendigen Gemeinweſens, um
den Werth, den die Geſundheit eines jeden Einzelnen für Alle und
umgekehrt hat, zu verſtehen, und tiefgehender Wiſſenſchaft, um die
allgemeinen Gründe allgemeiner Geſundheit und Krankheit zu erkennen.
Daher iſt das Geſundheitsweſen bei all ſeiner unendlichen Wichtigkeit
vielleicht der unentwickeltſte Theil der ganzen inneren Verwaltung
Europa’s.

Die Geſchlechterordnung kennt nicht einmal die Heilkunde, geſchweige
denn ein Geſundheitsweſen. Die ſtändiſche Ordnung erzeugt die Wiſſenſchaft
der Medicin, doch vermag ſie keine Geſundheitspflege hervorzubringen,
indeß wird die Medicin, die ſie (an den Univerſitäten) erzeugt, die
Mutter des Geſundheitsweſens. Denn ſo wie die neue Staatenbildung
auftritt, nimmt ſie das letztere in ihre Verwaltung auf. Anfangs
freilich nur örtlich und bloß als Seuchenpolizei, dann aber mit dem
achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert in großen umfaſſenden Geſetz-
gebungen und mit Errichtung eigener, den ganzen Staat umfaſſender
Sanitäts-Organiſationen.

In dieſer Beziehung ſcheiden ſich nun zwei große Epochen. Die
erſte reicht vom Anfange des vorigen Jahrhunderts bis zu den dreißiger
Jahren unſerer Zeit. Ihr Charakter beſteht darin, daß ſie weſentlich
durch Regierungsorgane die Geſundheit in ihrem Sinne verwalten
will und ſich daher zur eigentlichen bis auf das Leben des Individuums
herab erſtreckenden Geſundheitspolizei geſtaltet. Ihr Inhalt iſt vor
allem Schutz der Geſundheit gegen unmittelbar und äußerlich drohende
Gefahren und eine möglichſt allgemeine Organiſation des Heilweſens,
die ſie durch Verbindung der amtlichen Thätigkeit mit den mediciniſchen
Fakultäten zu erzielen ſucht. Erſt gegen Ende des vorigen Jahrhun-
derts wird der Gedanke lebendig, daß die Baſis der Geſundheit in den
elementaren Verhältniſſen liegt und daß der Schwerpunkt des Geſund-
heitsweſens ſtatt in der Polizei und der Heilung der bereits vorhan-
denen Krankheiten vielmehr in der Pflege der Bedingungen für die
Erhaltung der Geſundheit liege. Dieſer Gedanke kommt zum
Durchbruche durch die Cholera, die in dieſer Beziehung ein Segen für
Europa geworden iſt. Die neueſte Zeit hat dieſe Richtung zur ſocialen
Geſundheitspflege
entwickelt; ſie beginnt, wenn auch langſam, den
großen Kampf mit den ewigen elementaren Feinden der Geſundheit bei

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[83/0107] Entwicklung der Geſetzgebung und der Organiſation des Geſundheitsweſens bis zur Gegenwart. Es gehört ein hochgebildetes Volk dazu, um die Bedeutung des Geſundheitsweſens zu erkennen und die Forderungen deſſelben zur Gel- tung zu bringen. Denn es bedarf eines lebendigen Gemeinweſens, um den Werth, den die Geſundheit eines jeden Einzelnen für Alle und umgekehrt hat, zu verſtehen, und tiefgehender Wiſſenſchaft, um die allgemeinen Gründe allgemeiner Geſundheit und Krankheit zu erkennen. Daher iſt das Geſundheitsweſen bei all ſeiner unendlichen Wichtigkeit vielleicht der unentwickeltſte Theil der ganzen inneren Verwaltung Europa’s. Die Geſchlechterordnung kennt nicht einmal die Heilkunde, geſchweige denn ein Geſundheitsweſen. Die ſtändiſche Ordnung erzeugt die Wiſſenſchaft der Medicin, doch vermag ſie keine Geſundheitspflege hervorzubringen, indeß wird die Medicin, die ſie (an den Univerſitäten) erzeugt, die Mutter des Geſundheitsweſens. Denn ſo wie die neue Staatenbildung auftritt, nimmt ſie das letztere in ihre Verwaltung auf. Anfangs freilich nur örtlich und bloß als Seuchenpolizei, dann aber mit dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert in großen umfaſſenden Geſetz- gebungen und mit Errichtung eigener, den ganzen Staat umfaſſender Sanitäts-Organiſationen. In dieſer Beziehung ſcheiden ſich nun zwei große Epochen. Die erſte reicht vom Anfange des vorigen Jahrhunderts bis zu den dreißiger Jahren unſerer Zeit. Ihr Charakter beſteht darin, daß ſie weſentlich durch Regierungsorgane die Geſundheit in ihrem Sinne verwalten will und ſich daher zur eigentlichen bis auf das Leben des Individuums herab erſtreckenden Geſundheitspolizei geſtaltet. Ihr Inhalt iſt vor allem Schutz der Geſundheit gegen unmittelbar und äußerlich drohende Gefahren und eine möglichſt allgemeine Organiſation des Heilweſens, die ſie durch Verbindung der amtlichen Thätigkeit mit den mediciniſchen Fakultäten zu erzielen ſucht. Erſt gegen Ende des vorigen Jahrhun- derts wird der Gedanke lebendig, daß die Baſis der Geſundheit in den elementaren Verhältniſſen liegt und daß der Schwerpunkt des Geſund- heitsweſens ſtatt in der Polizei und der Heilung der bereits vorhan- denen Krankheiten vielmehr in der Pflege der Bedingungen für die Erhaltung der Geſundheit liege. Dieſer Gedanke kommt zum Durchbruche durch die Cholera, die in dieſer Beziehung ein Segen für Europa geworden iſt. Die neueſte Zeit hat dieſe Richtung zur ſocialen Geſundheitspflege entwickelt; ſie beginnt, wenn auch langſam, den großen Kampf mit den ewigen elementaren Feinden der Geſundheit bei

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/107>, abgerufen am 19.11.2024.