pst_087.001 daß eine geschichtliche Welt unmöglich sei (vergleiche pst_087.002 Seite 199). Epen und Dramen haben also eine geschichtliche pst_087.003 Funktion. Aus einem Lied ergibt sich nichts. Es pst_087.004 wird gedichtet, es läßt uns kalt, es findet die Liebe Einzelner. pst_087.005 Niemand aber kann sein Leben durch ein Lied pst_087.006 bestimmen lassen, wie man sich wohl aus Epen und pst_087.007 Dramen einen Helden wählen mag. Es gibt kein Vorbild pst_087.008 und schreckt nicht ab. Wir finden keinen Rat bei pst_087.009 ihm, wenn wir uns entscheiden müssen, während uns pst_087.010 eine Sentenz doch wohl in schwerer Stunde stärken pst_087.011 mag. Lieder bleiben unverbindlich. Sie lösen keine Probleme. pst_087.012 Wir können uns nicht auf sie berufen. Wer pst_087.013 wollte einen Duft, ein Schwebendes, Atmosphärisches pst_087.014 je als Zeugen in irgendeiner Sache nennen? Ein Lied pst_087.015 kann uns trösten, aber nicht helfen. Es ist viel eher eine pst_087.016 Geliebte als ein Freund, auf den wir uns stützen, um zu pst_087.017 Werken und Taten zu schreiten, und eine Geliebte eher pst_087.018 als die Frau, die mit dem Manne dauernd verbunden pst_087.019 ist. All dies geht daraus hervor, daß lyrische Dichtung pst_087.020 nichts bewältigt, daß sie keinen Gegenstand hat, um pst_087.021 etwas wie Kraft daran zu erproben, daß sie, um es kurz pst_087.022 zu sagen, zwar seelenvoll, aber geistlos ist.
pst_087.023
Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des pst_087.024 Lieds begründet? Die wenigen Zeilen "stellen nichts pst_087.025 vor". Wie sollten sie Geschichte machen oder irgend pst_087.026 verläßlich sein? Dagegen ist nichts einzuwenden. Wir pst_087.027 wissen nun aber, wie die Kürze zum Wesen des Lyrischen pst_087.028 gehört. Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange pst_087.029 dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt. pst_087.030 Das heißt jedoch mit anderen Worten: Der lyrische pst_087.031 Dichter hat kein Schicksal. Dort, wo das Schicksal, der
pst_087.001 daß eine geschichtliche Welt unmöglich sei (vergleiche pst_087.002 Seite 199). Epen und Dramen haben also eine geschichtliche pst_087.003 Funktion. Aus einem Lied ergibt sich nichts. Es pst_087.004 wird gedichtet, es läßt uns kalt, es findet die Liebe Einzelner. pst_087.005 Niemand aber kann sein Leben durch ein Lied pst_087.006 bestimmen lassen, wie man sich wohl aus Epen und pst_087.007 Dramen einen Helden wählen mag. Es gibt kein Vorbild pst_087.008 und schreckt nicht ab. Wir finden keinen Rat bei pst_087.009 ihm, wenn wir uns entscheiden müssen, während uns pst_087.010 eine Sentenz doch wohl in schwerer Stunde stärken pst_087.011 mag. Lieder bleiben unverbindlich. Sie lösen keine Probleme. pst_087.012 Wir können uns nicht auf sie berufen. Wer pst_087.013 wollte einen Duft, ein Schwebendes, Atmosphärisches pst_087.014 je als Zeugen in irgendeiner Sache nennen? Ein Lied pst_087.015 kann uns trösten, aber nicht helfen. Es ist viel eher eine pst_087.016 Geliebte als ein Freund, auf den wir uns stützen, um zu pst_087.017 Werken und Taten zu schreiten, und eine Geliebte eher pst_087.018 als die Frau, die mit dem Manne dauernd verbunden pst_087.019 ist. All dies geht daraus hervor, daß lyrische Dichtung pst_087.020 nichts bewältigt, daß sie keinen Gegenstand hat, um pst_087.021 etwas wie Kraft daran zu erproben, daß sie, um es kurz pst_087.022 zu sagen, zwar seelenvoll, aber geistlos ist.
pst_087.023
Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des pst_087.024 Lieds begründet? Die wenigen Zeilen «stellen nichts pst_087.025 vor». Wie sollten sie Geschichte machen oder irgend pst_087.026 verläßlich sein? Dagegen ist nichts einzuwenden. Wir pst_087.027 wissen nun aber, wie die Kürze zum Wesen des Lyrischen pst_087.028 gehört. Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange pst_087.029 dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt. pst_087.030 Das heißt jedoch mit anderen Worten: Der lyrische pst_087.031 Dichter hat kein Schicksal. Dort, wo das Schicksal, der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0091"n="87"/><lbn="pst_087.001"/>
daß eine geschichtliche Welt unmöglich sei (vergleiche <lbn="pst_087.002"/>
Seite 199). Epen und Dramen haben also eine geschichtliche <lbn="pst_087.003"/>
Funktion. Aus einem Lied ergibt sich nichts. Es <lbn="pst_087.004"/>
wird gedichtet, es läßt uns kalt, es findet die Liebe Einzelner. <lbn="pst_087.005"/>
Niemand aber kann sein Leben durch ein Lied <lbn="pst_087.006"/>
bestimmen lassen, wie man sich wohl aus Epen und <lbn="pst_087.007"/>
Dramen einen Helden wählen mag. Es gibt kein Vorbild <lbn="pst_087.008"/>
und schreckt nicht ab. Wir finden keinen Rat bei <lbn="pst_087.009"/>
ihm, wenn wir uns entscheiden müssen, während uns <lbn="pst_087.010"/>
eine Sentenz doch wohl in schwerer Stunde stärken <lbn="pst_087.011"/>
mag. Lieder bleiben unverbindlich. Sie lösen keine Probleme. <lbn="pst_087.012"/>
Wir können uns nicht auf sie berufen. Wer <lbn="pst_087.013"/>
wollte einen Duft, ein Schwebendes, Atmosphärisches <lbn="pst_087.014"/>
je als Zeugen in irgendeiner Sache nennen? Ein Lied <lbn="pst_087.015"/>
kann uns trösten, aber nicht helfen. Es ist viel eher eine <lbn="pst_087.016"/>
Geliebte als ein Freund, auf den wir uns stützen, um zu <lbn="pst_087.017"/>
Werken und Taten zu schreiten, und eine Geliebte eher <lbn="pst_087.018"/>
als die Frau, die mit dem Manne dauernd verbunden <lbn="pst_087.019"/>
ist. All dies geht daraus hervor, daß lyrische Dichtung <lbn="pst_087.020"/>
nichts bewältigt, daß sie keinen Gegenstand hat, um <lbn="pst_087.021"/>
etwas wie Kraft daran zu erproben, daß sie, um es kurz <lbn="pst_087.022"/>
zu sagen, zwar seelenvoll, aber geistlos ist.</p><lbn="pst_087.023"/><p> Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des <lbn="pst_087.024"/>
Lieds begründet? Die wenigen Zeilen «stellen nichts <lbn="pst_087.025"/>
vor». Wie sollten sie Geschichte machen oder irgend <lbn="pst_087.026"/>
verläßlich sein? Dagegen ist nichts einzuwenden. Wir <lbn="pst_087.027"/>
wissen nun aber, wie die Kürze zum Wesen des Lyrischen <lbn="pst_087.028"/>
gehört. Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange <lbn="pst_087.029"/>
dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt. <lbn="pst_087.030"/>
Das heißt jedoch mit anderen Worten: Der lyrische <lbn="pst_087.031"/>
Dichter hat kein Schicksal. Dort, wo das Schicksal, der
</p></div></div></body></text></TEI>
[87/0091]
pst_087.001
daß eine geschichtliche Welt unmöglich sei (vergleiche pst_087.002
Seite 199). Epen und Dramen haben also eine geschichtliche pst_087.003
Funktion. Aus einem Lied ergibt sich nichts. Es pst_087.004
wird gedichtet, es läßt uns kalt, es findet die Liebe Einzelner. pst_087.005
Niemand aber kann sein Leben durch ein Lied pst_087.006
bestimmen lassen, wie man sich wohl aus Epen und pst_087.007
Dramen einen Helden wählen mag. Es gibt kein Vorbild pst_087.008
und schreckt nicht ab. Wir finden keinen Rat bei pst_087.009
ihm, wenn wir uns entscheiden müssen, während uns pst_087.010
eine Sentenz doch wohl in schwerer Stunde stärken pst_087.011
mag. Lieder bleiben unverbindlich. Sie lösen keine Probleme. pst_087.012
Wir können uns nicht auf sie berufen. Wer pst_087.013
wollte einen Duft, ein Schwebendes, Atmosphärisches pst_087.014
je als Zeugen in irgendeiner Sache nennen? Ein Lied pst_087.015
kann uns trösten, aber nicht helfen. Es ist viel eher eine pst_087.016
Geliebte als ein Freund, auf den wir uns stützen, um zu pst_087.017
Werken und Taten zu schreiten, und eine Geliebte eher pst_087.018
als die Frau, die mit dem Manne dauernd verbunden pst_087.019
ist. All dies geht daraus hervor, daß lyrische Dichtung pst_087.020
nichts bewältigt, daß sie keinen Gegenstand hat, um pst_087.021
etwas wie Kraft daran zu erproben, daß sie, um es kurz pst_087.022
zu sagen, zwar seelenvoll, aber geistlos ist.
pst_087.023
Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des pst_087.024
Lieds begründet? Die wenigen Zeilen «stellen nichts pst_087.025
vor». Wie sollten sie Geschichte machen oder irgend pst_087.026
verläßlich sein? Dagegen ist nichts einzuwenden. Wir pst_087.027
wissen nun aber, wie die Kürze zum Wesen des Lyrischen pst_087.028
gehört. Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange pst_087.029
dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt. pst_087.030
Das heißt jedoch mit anderen Worten: Der lyrische pst_087.031
Dichter hat kein Schicksal. Dort, wo das Schicksal, der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/91>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.