pst_081.001 und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen,pst_081.002 wie sie vielleicht nur Vögel kennen ..."
pst_081.003
Die Punkte bedeuten, daß etwas noch aussteht, etwas pst_081.004 noch gesagt werden müßte, der Vers nämlich, der auf pst_081.005 "kennen" reimt, daß aber dies Letzte unsäglich sei. pst_081.006 Eine Gebärde der Ohnmacht, ein Verzicht vor dem allzu pst_081.007 Innigen, der uns bei Rilke manchmal geziert anmutet, pst_081.008 der aber doch zweifellos tief im Wesen des Lyrischen pst_081.009 begründet ist. Der Dichter, der den Bereich des in der pst_081.010 Sprache Faßlichen unter den Neueren wohl am meisten pst_081.011 erweitert hat, gefällt sich darin, denen Recht zu geben, pst_081.012 die sagen, nie geschriebene, unaussprechliche Verse pst_081.013 seien die schönsten. In dieser Frage scheiden sich sonst pst_081.014 die Künstler und die Dilettanten, die Meister des Worts pst_081.015 und jene, die überschwenglich fühlen, doch ihr Gefühl pst_081.016 nicht auszusprechen imstande sind. Eine Verständigung pst_081.017 scheint unmöglich. Der Künstler stellt sich auf den pst_081.018 Standpunkt, alle Dichtung sei Sprachkunstwerk. Was pst_081.019 nicht ausgesprochen werde, sei überhaupt keine Poesie. pst_081.020 Er macht damit auf den Widerspruch im Begriff des pst_081.021 "stummen Wortes", des "ungesprochenen Verses" aufmerksam pst_081.022 und behält - als Dichter - zweifellos Recht. pst_081.023 Der fühlende Dilettant jedoch hat gleichfalls Recht, pst_081.024 wenn er meint, das reine Gefühl sei keiner Sprache pst_081.025 fähig. Er darf sich berufen auf Schillers Wort:
pst_081.026
"Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seelepst_081.027 nicht mehr."
pst_081.028
Also zeigt sich, daß der Streit um jene Unterscheidung pst_081.029 geht, die schon das Vorwort dieses Versuchs einer
pst_081.001 und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen,pst_081.002 wie sie vielleicht nur Vögel kennen ...»
pst_081.003
Die Punkte bedeuten, daß etwas noch aussteht, etwas pst_081.004 noch gesagt werden müßte, der Vers nämlich, der auf pst_081.005 «kennen» reimt, daß aber dies Letzte unsäglich sei. pst_081.006 Eine Gebärde der Ohnmacht, ein Verzicht vor dem allzu pst_081.007 Innigen, der uns bei Rilke manchmal geziert anmutet, pst_081.008 der aber doch zweifellos tief im Wesen des Lyrischen pst_081.009 begründet ist. Der Dichter, der den Bereich des in der pst_081.010 Sprache Faßlichen unter den Neueren wohl am meisten pst_081.011 erweitert hat, gefällt sich darin, denen Recht zu geben, pst_081.012 die sagen, nie geschriebene, unaussprechliche Verse pst_081.013 seien die schönsten. In dieser Frage scheiden sich sonst pst_081.014 die Künstler und die Dilettanten, die Meister des Worts pst_081.015 und jene, die überschwenglich fühlen, doch ihr Gefühl pst_081.016 nicht auszusprechen imstande sind. Eine Verständigung pst_081.017 scheint unmöglich. Der Künstler stellt sich auf den pst_081.018 Standpunkt, alle Dichtung sei Sprachkunstwerk. Was pst_081.019 nicht ausgesprochen werde, sei überhaupt keine Poesie. pst_081.020 Er macht damit auf den Widerspruch im Begriff des pst_081.021 «stummen Wortes», des «ungesprochenen Verses» aufmerksam pst_081.022 und behält – als Dichter – zweifellos Recht. pst_081.023 Der fühlende Dilettant jedoch hat gleichfalls Recht, pst_081.024 wenn er meint, das reine Gefühl sei keiner Sprache pst_081.025 fähig. Er darf sich berufen auf Schillers Wort:
pst_081.026
«Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seelepst_081.027 nicht mehr.»
pst_081.028
Also zeigt sich, daß der Streit um jene Unterscheidung pst_081.029 geht, die schon das Vorwort dieses Versuchs einer
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><lg><pbfacs="#f0085"n="81"/><lbn="pst_081.001"/><l>und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen,</l><lbn="pst_081.002"/><l>wie sie vielleicht nur Vögel kennen ...»</l></lg><lbn="pst_081.003"/><p> Die Punkte bedeuten, daß etwas noch aussteht, etwas <lbn="pst_081.004"/>
noch gesagt werden müßte, der Vers nämlich, der auf <lbn="pst_081.005"/>
«kennen» reimt, daß aber dies Letzte unsäglich sei. <lbn="pst_081.006"/>
Eine Gebärde der Ohnmacht, ein Verzicht vor dem allzu <lbn="pst_081.007"/>
Innigen, der uns bei Rilke manchmal geziert anmutet, <lbn="pst_081.008"/>
der aber doch zweifellos tief im Wesen des Lyrischen <lbn="pst_081.009"/>
begründet ist. Der Dichter, der den Bereich des in der <lbn="pst_081.010"/>
Sprache Faßlichen unter den Neueren wohl am meisten <lbn="pst_081.011"/>
erweitert hat, gefällt sich darin, denen Recht zu geben, <lbn="pst_081.012"/>
die sagen, nie geschriebene, unaussprechliche Verse <lbn="pst_081.013"/>
seien die schönsten. In dieser Frage scheiden sich sonst <lbn="pst_081.014"/>
die Künstler und die Dilettanten, die Meister des Worts <lbn="pst_081.015"/>
und jene, die überschwenglich fühlen, doch ihr Gefühl <lbn="pst_081.016"/>
nicht auszusprechen imstande sind. Eine Verständigung <lbn="pst_081.017"/>
scheint unmöglich. Der Künstler stellt sich auf den <lbn="pst_081.018"/>
Standpunkt, alle Dichtung sei Sprachkunstwerk. Was <lbn="pst_081.019"/>
nicht ausgesprochen werde, sei überhaupt keine Poesie. <lbn="pst_081.020"/>
Er macht damit auf den Widerspruch im Begriff des <lbn="pst_081.021"/>
«stummen Wortes», des «ungesprochenen Verses» aufmerksam <lbn="pst_081.022"/>
und behält – als Dichter – zweifellos Recht. <lbn="pst_081.023"/>
Der fühlende Dilettant jedoch hat gleichfalls Recht, <lbn="pst_081.024"/>
wenn er meint, das reine Gefühl sei keiner Sprache <lbn="pst_081.025"/>
fähig. Er darf sich berufen auf Schillers Wort:</p><lbn="pst_081.026"/><lg><l>«<hirendition="#g">Spricht</hi> die Seele, so spricht, ach, schon die <hirendition="#g">Seele</hi></l><lbn="pst_081.027"/><l><hirendition="#et">nicht mehr.»</hi></l></lg><lbn="pst_081.028"/><p> Also zeigt sich, daß der Streit um jene Unterscheidung <lbn="pst_081.029"/>
geht, die schon das Vorwort dieses Versuchs einer
</p></div></div></body></text></TEI>
[81/0085]
pst_081.001
und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen, pst_081.002
wie sie vielleicht nur Vögel kennen ...»
pst_081.003
Die Punkte bedeuten, daß etwas noch aussteht, etwas pst_081.004
noch gesagt werden müßte, der Vers nämlich, der auf pst_081.005
«kennen» reimt, daß aber dies Letzte unsäglich sei. pst_081.006
Eine Gebärde der Ohnmacht, ein Verzicht vor dem allzu pst_081.007
Innigen, der uns bei Rilke manchmal geziert anmutet, pst_081.008
der aber doch zweifellos tief im Wesen des Lyrischen pst_081.009
begründet ist. Der Dichter, der den Bereich des in der pst_081.010
Sprache Faßlichen unter den Neueren wohl am meisten pst_081.011
erweitert hat, gefällt sich darin, denen Recht zu geben, pst_081.012
die sagen, nie geschriebene, unaussprechliche Verse pst_081.013
seien die schönsten. In dieser Frage scheiden sich sonst pst_081.014
die Künstler und die Dilettanten, die Meister des Worts pst_081.015
und jene, die überschwenglich fühlen, doch ihr Gefühl pst_081.016
nicht auszusprechen imstande sind. Eine Verständigung pst_081.017
scheint unmöglich. Der Künstler stellt sich auf den pst_081.018
Standpunkt, alle Dichtung sei Sprachkunstwerk. Was pst_081.019
nicht ausgesprochen werde, sei überhaupt keine Poesie. pst_081.020
Er macht damit auf den Widerspruch im Begriff des pst_081.021
«stummen Wortes», des «ungesprochenen Verses» aufmerksam pst_081.022
und behält – als Dichter – zweifellos Recht. pst_081.023
Der fühlende Dilettant jedoch hat gleichfalls Recht, pst_081.024
wenn er meint, das reine Gefühl sei keiner Sprache pst_081.025
fähig. Er darf sich berufen auf Schillers Wort:
pst_081.026
«Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele pst_081.027
nicht mehr.»
pst_081.028
Also zeigt sich, daß der Streit um jene Unterscheidung pst_081.029
geht, die schon das Vorwort dieses Versuchs einer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/85>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.