Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_080.001 "Über'n Garten, durch die Lüfte pst_080.002 Hört' ich Wandervögel zieh'n, pst_080.003 Das bedeutet Frühlingsdüfte, pst_080.004 Unten fängt's schon an zu blühn. pst_080.005 Jauchzen möcht' ich, möchte weinen, pst_080.006 Ist mir's doch, als könnt's nicht sein! pst_080.007 Alte Wunder wieder scheinen pst_080.008 Mit dem Mondesglanz herein. pst_080.009 pst_080.013Und der Mond, die Sterne sagen's, pst_080.010 Und in Träumen rauscht's der Hain, pst_080.011 Und die Nachtigallen schlagen's: pst_080.012 Sie ist deine, sie ist dein!" Nur wo ein Lied mit Kunstverstand ausgeführt ist, pst_080.014 In entgegengesetzter Richtung gehen jene Gedichte pst_080.021 "Wunderlicher Bau, pst_080.027 In sich bewegt und von sich selbst gehalten, pst_080.028 Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten pst_080.029 und Hochgebirge vor den ersten Sternen pst_080.001 «Über'n Garten, durch die Lüfte pst_080.002 Hört' ich Wandervögel zieh'n, pst_080.003 Das bedeutet Frühlingsdüfte, pst_080.004 Unten fängt's schon an zu blühn. pst_080.005 Jauchzen möcht' ich, möchte weinen, pst_080.006 Ist mir's doch, als könnt's nicht sein! pst_080.007 Alte Wunder wieder scheinen pst_080.008 Mit dem Mondesglanz herein. pst_080.009 pst_080.013Und der Mond, die Sterne sagen's, pst_080.010 Und in Träumen rauscht's der Hain, pst_080.011 Und die Nachtigallen schlagen's: pst_080.012 Sie ist deine, sie ist dein!» Nur wo ein Lied mit Kunstverstand ausgeführt ist, pst_080.014 In entgegengesetzter Richtung gehen jene Gedichte pst_080.021 «Wunderlicher Bau, pst_080.027 In sich bewegt und von sich selbst gehalten, pst_080.028 Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten pst_080.029 und Hochgebirge vor den ersten Sternen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0084" n="80"/> <lb n="pst_080.001"/> <lg> <l>«Über'n Garten, durch die Lüfte</l> <lb n="pst_080.002"/> <l>Hört' ich Wandervögel zieh'n,</l> <lb n="pst_080.003"/> <l>Das bedeutet Frühlingsdüfte,</l> <lb n="pst_080.004"/> <l>Unten fängt's schon an zu blühn. </l> </lg> <lg> <lb n="pst_080.005"/> <l>Jauchzen möcht' ich, möchte weinen,</l> <lb n="pst_080.006"/> <l>Ist mir's doch, als könnt's nicht sein!</l> <lb n="pst_080.007"/> <l>Alte Wunder wieder scheinen</l> <lb n="pst_080.008"/> <l>Mit dem Mondesglanz herein. </l> </lg> <lg> <lb n="pst_080.009"/> <l>Und der Mond, die Sterne sagen's,</l> <lb n="pst_080.010"/> <l>Und in Träumen rauscht's der Hain,</l> <lb n="pst_080.011"/> <l>Und die Nachtigallen schlagen's:</l> <lb n="pst_080.012"/> <l>Sie ist deine, sie ist dein!»</l> </lg> <lb n="pst_080.013"/> <p> Nur wo ein Lied mit Kunstverstand ausgeführt ist, <lb n="pst_080.014"/> wird man sagen dürfen, der Dichter fasse die Stimmung <lb n="pst_080.015"/> so zusammen, weil er schließen wolle. Wo die <lb n="pst_080.016"/> Eingebung, das Lyrisch-Unwillkürliche waltet, gilt <lb n="pst_080.017"/> eher das Umgekehrte: Weil der Dichter die Stimmung <lb n="pst_080.018"/> nun übersieht und benennen kann, ist das Lied zu <lb n="pst_080.019"/> Ende.</p> <lb n="pst_080.020"/> <p> In entgegengesetzter Richtung gehen jene Gedichte <lb n="pst_080.021"/> aus, denen am Ende die Sprache versagt. Rilke hat diese <lb n="pst_080.022"/> Möglichkeit manieristisch immer wieder erprobt, etwa <lb n="pst_080.023"/> im «Abend in Skåne» (nach der Fassung im «Buch der <lb n="pst_080.024"/> Bilder»), wo es zuletzt von dem abendlichen Himmel <lb n="pst_080.025"/> heißt:</p> <lb n="pst_080.026"/> <lg> <l>«Wunderlicher Bau,</l> <lb n="pst_080.027"/> <l>In sich bewegt und von sich selbst gehalten,</l> <lb n="pst_080.028"/> <l>Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten</l> <lb n="pst_080.029"/> <l>und Hochgebirge vor den ersten Sternen</l> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [80/0084]
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«Über'n Garten, durch die Lüfte pst_080.002
Hört' ich Wandervögel zieh'n, pst_080.003
Das bedeutet Frühlingsdüfte, pst_080.004
Unten fängt's schon an zu blühn.
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Jauchzen möcht' ich, möchte weinen, pst_080.006
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Alte Wunder wieder scheinen pst_080.008
Mit dem Mondesglanz herein.
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Und der Mond, die Sterne sagen's, pst_080.010
Und in Träumen rauscht's der Hain, pst_080.011
Und die Nachtigallen schlagen's: pst_080.012
Sie ist deine, sie ist dein!»
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wird man sagen dürfen, der Dichter fasse die Stimmung pst_080.015
so zusammen, weil er schließen wolle. Wo die pst_080.016
Eingebung, das Lyrisch-Unwillkürliche waltet, gilt pst_080.017
eher das Umgekehrte: Weil der Dichter die Stimmung pst_080.018
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Ende.
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In entgegengesetzter Richtung gehen jene Gedichte pst_080.021
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Möglichkeit manieristisch immer wieder erprobt, etwa pst_080.023
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heißt:
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Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten pst_080.029
und Hochgebirge vor den ersten Sternen
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