Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_073.001
machen zu jenen Erinnerungen des im Raume pst_073.002
gegenwärtigen Lebens, bei denen nun auch in der pst_073.003
schlichten Sprache der Dichter das Ineinander mehr pst_073.004
oder weniger rein zum Ausdruck kommt.

pst_073.005
"O Lieb', o Liebe, pst_073.006
So golden schön, pst_073.007
Wie Morgenwolken pst_073.008
Auf jenen Höhn ..."
pst_073.009

In diesen Versen aus Goethes "Mailied" hält das "wie" pst_073.010
noch eine leise Spur des Gegenübers fest. Wenn wir pst_073.011
aber versuchen, es ernsthaft als homerisches "gleichwie", pst_073.012
das ein Gleichnis einleitet, aufzufassen, so sehen pst_073.013
wir leicht, daß dies nicht angeht. Die Vergleichspartikel pst_073.014
ist nicht viel mehr als eine Redensart, vielleicht auch pst_073.015
schon eine fast unmerkliche Vorbedeutung des späteren pst_073.016
Goethe, der sich zwar der Natur gegenüber, doch beide pst_073.017
im Grund als identisch erkennt und damit ebenso dem pst_073.018
Lyrischen wie dem Epischen offen bleibt. Am nächsten pst_073.019
liegt es aber, zu sagen, daß die Liebe sich in den goldenen pst_073.020
schönen Morgenwolken fühlt. So spricht sich dann Mörike pst_073.021
aus in "An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang":

pst_073.022
"O flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe! pst_073.023
Welch neue Welt bewegest du in mir? pst_073.024
Was ist's, daß ich auf einmal nun in dir pst_073.025
Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?"
pst_073.026

"Du in mir, ich in dir": Der Dichter weiß noch, daß pst_073.027
Ich und Du in andrer Hinsicht unterschieden sind, und pst_073.028
weiß zugleich, daß diese gewöhnliche Hinsicht jetzt pst_073.029
nicht gilt. So geht es weiter. Von "Du in mir" ist der

pst_073.001
machen zu jenen Erinnerungen des im Raume pst_073.002
gegenwärtigen Lebens, bei denen nun auch in der pst_073.003
schlichten Sprache der Dichter das Ineinander mehr pst_073.004
oder weniger rein zum Ausdruck kommt.

pst_073.005
«O Lieb', o Liebe, pst_073.006
So golden schön, pst_073.007
Wie Morgenwolken pst_073.008
Auf jenen Höhn ...»
pst_073.009

In diesen Versen aus Goethes «Mailied» hält das «wie» pst_073.010
noch eine leise Spur des Gegenübers fest. Wenn wir pst_073.011
aber versuchen, es ernsthaft als homerisches «gleichwie», pst_073.012
das ein Gleichnis einleitet, aufzufassen, so sehen pst_073.013
wir leicht, daß dies nicht angeht. Die Vergleichspartikel pst_073.014
ist nicht viel mehr als eine Redensart, vielleicht auch pst_073.015
schon eine fast unmerkliche Vorbedeutung des späteren pst_073.016
Goethe, der sich zwar der Natur gegenüber, doch beide pst_073.017
im Grund als identisch erkennt und damit ebenso dem pst_073.018
Lyrischen wie dem Epischen offen bleibt. Am nächsten pst_073.019
liegt es aber, zu sagen, daß die Liebe sich in den goldenen pst_073.020
schönen Morgenwolken fühlt. So spricht sich dann Mörike pst_073.021
aus in «An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang»:

pst_073.022
«O flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe! pst_073.023
Welch neue Welt bewegest du in mir? pst_073.024
Was ist's, daß ich auf einmal nun in dir pst_073.025
Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?»
pst_073.026

«Du in mir, ich in dir»: Der Dichter weiß noch, daß pst_073.027
Ich und Du in andrer Hinsicht unterschieden sind, und pst_073.028
weiß zugleich, daß diese gewöhnliche Hinsicht jetzt pst_073.029
nicht gilt. So geht es weiter. Von «Du in mir» ist der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0077" n="73"/><lb n="pst_073.001"/>
machen zu jenen Erinnerungen des im Raume <lb n="pst_073.002"/>
gegenwärtigen Lebens, bei denen nun auch in der <lb n="pst_073.003"/>
schlichten Sprache der Dichter das Ineinander mehr <lb n="pst_073.004"/>
oder weniger rein zum Ausdruck kommt.</p>
          <lb n="pst_073.005"/>
          <lg>
            <l>«O Lieb', o Liebe,</l>
            <lb n="pst_073.006"/>
            <l>So golden schön,</l>
            <lb n="pst_073.007"/>
            <l>Wie Morgenwolken</l>
            <lb n="pst_073.008"/>
            <l>Auf jenen Höhn ...»</l>
          </lg>
          <lb n="pst_073.009"/>
          <p>In diesen Versen aus Goethes «Mailied» hält das «wie» <lb n="pst_073.010"/>
noch eine leise Spur des Gegenübers fest. Wenn wir <lb n="pst_073.011"/>
aber versuchen, es ernsthaft als homerisches «gleichwie», <lb n="pst_073.012"/>
das ein Gleichnis einleitet, aufzufassen, so sehen <lb n="pst_073.013"/>
wir leicht, daß dies nicht angeht. Die Vergleichspartikel <lb n="pst_073.014"/>
ist nicht viel mehr als eine Redensart, vielleicht auch <lb n="pst_073.015"/>
schon eine fast unmerkliche Vorbedeutung des späteren <lb n="pst_073.016"/>
Goethe, der <hi rendition="#g">sich</hi> zwar der Natur gegenüber, doch beide <lb n="pst_073.017"/> <hi rendition="#g">im Grund</hi> als identisch erkennt und damit ebenso dem <lb n="pst_073.018"/>
Lyrischen wie dem Epischen offen bleibt. Am nächsten <lb n="pst_073.019"/>
liegt es aber, zu sagen, daß die Liebe sich in den goldenen <lb n="pst_073.020"/>
schönen Morgenwolken fühlt. So spricht sich dann Mörike <lb n="pst_073.021"/>
aus in «An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang»:</p>
          <lb n="pst_073.022"/>
          <lg>
            <l>«O flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe!</l>
            <lb n="pst_073.023"/>
            <l>Welch neue Welt bewegest du in mir?</l>
            <lb n="pst_073.024"/>
            <l>Was ist's, daß ich auf einmal nun in dir</l>
            <lb n="pst_073.025"/>
            <l>Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?»</l>
          </lg>
          <lb n="pst_073.026"/>
          <p>«Du in mir, ich in dir»: Der Dichter weiß noch, daß <lb n="pst_073.027"/>
Ich und Du in andrer Hinsicht unterschieden sind, und <lb n="pst_073.028"/>
weiß zugleich, daß diese gewöhnliche Hinsicht jetzt <lb n="pst_073.029"/>
nicht gilt. So geht es weiter. Von «Du in mir» ist der
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0077] pst_073.001 machen zu jenen Erinnerungen des im Raume pst_073.002 gegenwärtigen Lebens, bei denen nun auch in der pst_073.003 schlichten Sprache der Dichter das Ineinander mehr pst_073.004 oder weniger rein zum Ausdruck kommt. pst_073.005 «O Lieb', o Liebe, pst_073.006 So golden schön, pst_073.007 Wie Morgenwolken pst_073.008 Auf jenen Höhn ...» pst_073.009 In diesen Versen aus Goethes «Mailied» hält das «wie» pst_073.010 noch eine leise Spur des Gegenübers fest. Wenn wir pst_073.011 aber versuchen, es ernsthaft als homerisches «gleichwie», pst_073.012 das ein Gleichnis einleitet, aufzufassen, so sehen pst_073.013 wir leicht, daß dies nicht angeht. Die Vergleichspartikel pst_073.014 ist nicht viel mehr als eine Redensart, vielleicht auch pst_073.015 schon eine fast unmerkliche Vorbedeutung des späteren pst_073.016 Goethe, der sich zwar der Natur gegenüber, doch beide pst_073.017 im Grund als identisch erkennt und damit ebenso dem pst_073.018 Lyrischen wie dem Epischen offen bleibt. Am nächsten pst_073.019 liegt es aber, zu sagen, daß die Liebe sich in den goldenen pst_073.020 schönen Morgenwolken fühlt. So spricht sich dann Mörike pst_073.021 aus in «An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang»: pst_073.022 «O flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe! pst_073.023 Welch neue Welt bewegest du in mir? pst_073.024 Was ist's, daß ich auf einmal nun in dir pst_073.025 Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?» pst_073.026 «Du in mir, ich in dir»: Der Dichter weiß noch, daß pst_073.027 Ich und Du in andrer Hinsicht unterschieden sind, und pst_073.028 weiß zugleich, daß diese gewöhnliche Hinsicht jetzt pst_073.029 nicht gilt. So geht es weiter. Von «Du in mir» ist der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/77
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/77>, abgerufen am 23.11.2024.