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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Der Lyriker nimmt nicht Bilder aus der Sphäre pst_072.002
des Körpers, um etwas anderes, den Seelenzustand, auszusprechen; pst_072.003
sondern die Seele selbst ist leiblich und pst_072.004
wandelt sich in den Gefühlen, die, nicht den Körper, pst_072.005
aber den Leib heimsuchen. Auch damit wird die Stimmung pst_072.006
nicht ins Innere hineingenommen. Nur der pst_072.007
Körper ist begrenzt und stellt sich dar als eine Form, in pst_072.008
die man von außen eindringen kann. Leib dagegen sei pst_072.009
die Bezeichnung für alles, was den Abstand zwischen pst_072.010
uns und der Außenwelt aufhebt. Wenn Sappho der pst_072.011
Schweiß ausbricht und wenn sie der Schauer befällt, pst_072.012
dann ist sie gerade nicht "in sich", sondern "außer pst_072.013
sich". Im brennenden Eingeweide fühlt Mignon die pst_072.014
Ferne des geliebten Landes. Leiblich fühlen wir also pst_072.015
nicht uns als Individualität oder als Person oder lebensgeschichtlich pst_072.016
bestimmtes Selbst. Wir fühlen die Landschaft, pst_072.017
den Abend, die Liebste - oder, genauer noch: pst_072.018
Wir fühlen uns im Abend und in der Geliebten. Wir pst_072.019
gehen im Gefühlten auf.

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Dennoch redet natürlich auch der Lyriker, befangen pst_072.021
im allgemein gültigen epischen Sprachgebrauch, oft von pst_072.022
Innen- und Außenwelt. Und zwar nennt er "innerlich" pst_072.023
insbesondere jenes Erinnerte, das ihm nicht gleichzeitig pst_072.024
vor Augen steht, das Vergangene und das Künftige. pst_072.025
"Durch das Labyrinth der Brust" wandeln vergangene pst_072.026
unaussprechliche Tage der Liebe. "Im Herzen pst_072.027
die Gedanken" (Eichendorff) sind gleichfalls Erinnerungen pst_072.028
des Vergangenen. Aber auch dieses mehr lokale pst_072.029
"innen", das die Brust, das Herz als eine Art Hohlform pst_072.030
deutet, heißt schließlich doch wieder so viel wie "nicht pst_072.031
gegenwärtig"; und es läßt sich kein Unterschied ausfindig

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Der Lyriker nimmt nicht Bilder aus der Sphäre pst_072.002
des Körpers, um etwas anderes, den Seelenzustand, auszusprechen; pst_072.003
sondern die Seele selbst ist leiblich und pst_072.004
wandelt sich in den Gefühlen, die, nicht den Körper, pst_072.005
aber den Leib heimsuchen. Auch damit wird die Stimmung pst_072.006
nicht ins Innere hineingenommen. Nur der pst_072.007
Körper ist begrenzt und stellt sich dar als eine Form, in pst_072.008
die man von außen eindringen kann. Leib dagegen sei pst_072.009
die Bezeichnung für alles, was den Abstand zwischen pst_072.010
uns und der Außenwelt aufhebt. Wenn Sappho der pst_072.011
Schweiß ausbricht und wenn sie der Schauer befällt, pst_072.012
dann ist sie gerade nicht «in sich», sondern «außer pst_072.013
sich». Im brennenden Eingeweide fühlt Mignon die pst_072.014
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den Abend, die Liebste – oder, genauer noch: pst_072.018
Wir fühlen uns im Abend und in der Geliebten. Wir pst_072.019
gehen im Gefühlten auf.

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  Dennoch redet natürlich auch der Lyriker, befangen pst_072.021
im allgemein gültigen epischen Sprachgebrauch, oft von pst_072.022
Innen- und Außenwelt. Und zwar nennt er «innerlich» pst_072.023
insbesondere jenes Erinnerte, das ihm nicht gleichzeitig pst_072.024
vor Augen steht, das Vergangene und das Künftige. pst_072.025
«Durch das Labyrinth der Brust» wandeln vergangene pst_072.026
unaussprechliche Tage der Liebe. «Im Herzen pst_072.027
die Gedanken» (Eichendorff) sind gleichfalls Erinnerungen pst_072.028
des Vergangenen. Aber auch dieses mehr lokale pst_072.029
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[72/0076] pst_072.001 Der Lyriker nimmt nicht Bilder aus der Sphäre pst_072.002 des Körpers, um etwas anderes, den Seelenzustand, auszusprechen; pst_072.003 sondern die Seele selbst ist leiblich und pst_072.004 wandelt sich in den Gefühlen, die, nicht den Körper, pst_072.005 aber den Leib heimsuchen. Auch damit wird die Stimmung pst_072.006 nicht ins Innere hineingenommen. Nur der pst_072.007 Körper ist begrenzt und stellt sich dar als eine Form, in pst_072.008 die man von außen eindringen kann. Leib dagegen sei pst_072.009 die Bezeichnung für alles, was den Abstand zwischen pst_072.010 uns und der Außenwelt aufhebt. Wenn Sappho der pst_072.011 Schweiß ausbricht und wenn sie der Schauer befällt, pst_072.012 dann ist sie gerade nicht «in sich», sondern «außer pst_072.013 sich». Im brennenden Eingeweide fühlt Mignon die pst_072.014 Ferne des geliebten Landes. Leiblich fühlen wir also pst_072.015 nicht uns als Individualität oder als Person oder lebensgeschichtlich pst_072.016 bestimmtes Selbst. Wir fühlen die Landschaft, pst_072.017 den Abend, die Liebste – oder, genauer noch: pst_072.018 Wir fühlen uns im Abend und in der Geliebten. Wir pst_072.019 gehen im Gefühlten auf. pst_072.020   Dennoch redet natürlich auch der Lyriker, befangen pst_072.021 im allgemein gültigen epischen Sprachgebrauch, oft von pst_072.022 Innen- und Außenwelt. Und zwar nennt er «innerlich» pst_072.023 insbesondere jenes Erinnerte, das ihm nicht gleichzeitig pst_072.024 vor Augen steht, das Vergangene und das Künftige. pst_072.025 «Durch das Labyrinth der Brust» wandeln vergangene pst_072.026 unaussprechliche Tage der Liebe. «Im Herzen pst_072.027 die Gedanken» (Eichendorff) sind gleichfalls Erinnerungen pst_072.028 des Vergangenen. Aber auch dieses mehr lokale pst_072.029 «innen», das die Brust, das Herz als eine Art Hohlform pst_072.030 deutet, heißt schließlich doch wieder so viel wie «nicht pst_072.031 gegenwärtig»; und es läßt sich kein Unterschied ausfindig

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/76>, abgerufen am 27.11.2024.