Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_071.001 Vischer nennt dergleichen eine "Art dunkler Symbolik, pst_071.006 Da die deutsche Sprache uns aber die beiden Begriffe pst_071.017 1 pst_071.029
a. a. O. Bd. VI, S. 204. pst_071.001 Vischer nennt dergleichen eine «Art dunkler Symbolik, pst_071.006 Da die deutsche Sprache uns aber die beiden Begriffe pst_071.017 1 pst_071.029
a. a. O. Bd. VI, S. 204. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg> <pb facs="#f0075" n="71"/> <lb n="pst_071.001"/> <l>Mit den Augen sehe ich nichts; es sausen die Ohren.</l> <lb n="pst_071.002"/> <l>Schweiß bricht aus und ein Zittern ergreift mich</l> <lb n="pst_071.003"/> <l>Ganz. Blasser bin ich als dürres Gras, und dem</l> <lb n="pst_071.004"/> <l>Tode nahe mein' ich zu sein, verstörten Geistes.»</l> </lg> <lb n="pst_071.005"/> <p> Vischer nennt dergleichen eine «Art dunkler Symbolik, <lb n="pst_071.006"/> wodurch der leibliche Zustand den Seelenzustand <lb n="pst_071.007"/> reflektiert»<note xml:id="PST_071_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_071.029"/> a. a. O. Bd. VI, S. 204.</note>. Wie in der Schilderung des Gefühls <lb n="pst_071.008"/> und der Subjektivität der Lyrik sieht er das Phänomen <lb n="pst_071.009"/> genau und verfälscht es durch seine Begrifflichkeit. <lb n="pst_071.010"/> Gerade von Reflexion nämlich werden wir hier <lb n="pst_071.011"/> nicht sprechen dürfen, ebensowenig von «dunkler Symbolik». <lb n="pst_071.012"/> So kann nur reden, wer Leib und Seele künstlich <lb n="pst_071.013"/> scheidet. Doch jeder, der sagt: «Mir ist weh!» und <lb n="pst_071.014"/> jeder, der «Tränen der Schmerzen und Freude» weint, <lb n="pst_071.015"/> weiß von dieser künstlichen Scheidung nichts.</p> <lb n="pst_071.016"/> <p> Da die deutsche Sprache uns aber die beiden Begriffe <lb n="pst_071.017"/> «Körper» und «Leib» anbietet, ist eine Verständigung <lb n="pst_071.018"/> wohl leicht möglich. Ein körperlicher Schmerz, zum <lb n="pst_071.019"/> Beispiel von einer Wunde oder Zahnweh, bleibt freilich <lb n="pst_071.020"/> außerhalb der seelischen Zone. Er kann uns stören, sogar <lb n="pst_071.021"/> verdüstern und so vielleicht, wenn er lange währt, <lb n="pst_071.022"/> auf das Seelische Einfluß gewinnen. Die Seele selber <lb n="pst_071.023"/> jedoch geht nicht in solchen körperlichen Schmerzen <lb n="pst_071.024"/> auf. Ganz anders aber Hamlets «Herzweh» oder der <lb n="pst_071.025"/> Wollustschauer Sapphos. Solche «Sensationen» oder <lb n="pst_071.026"/> «Gefühle» sind die leibliche Realität der Stimmung, <lb n="pst_071.027"/> die, diesseits aller Naturwissenschaft, den Ausspruch <lb n="pst_071.028"/> Schleiermachers bewährt: «Seele sein, heißt Leib haben». </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [71/0075]
pst_071.001
Mit den Augen sehe ich nichts; es sausen die Ohren. pst_071.002
Schweiß bricht aus und ein Zittern ergreift mich pst_071.003
Ganz. Blasser bin ich als dürres Gras, und dem pst_071.004
Tode nahe mein' ich zu sein, verstörten Geistes.»
pst_071.005
Vischer nennt dergleichen eine «Art dunkler Symbolik, pst_071.006
wodurch der leibliche Zustand den Seelenzustand pst_071.007
reflektiert» 1. Wie in der Schilderung des Gefühls pst_071.008
und der Subjektivität der Lyrik sieht er das Phänomen pst_071.009
genau und verfälscht es durch seine Begrifflichkeit. pst_071.010
Gerade von Reflexion nämlich werden wir hier pst_071.011
nicht sprechen dürfen, ebensowenig von «dunkler Symbolik». pst_071.012
So kann nur reden, wer Leib und Seele künstlich pst_071.013
scheidet. Doch jeder, der sagt: «Mir ist weh!» und pst_071.014
jeder, der «Tränen der Schmerzen und Freude» weint, pst_071.015
weiß von dieser künstlichen Scheidung nichts.
pst_071.016
Da die deutsche Sprache uns aber die beiden Begriffe pst_071.017
«Körper» und «Leib» anbietet, ist eine Verständigung pst_071.018
wohl leicht möglich. Ein körperlicher Schmerz, zum pst_071.019
Beispiel von einer Wunde oder Zahnweh, bleibt freilich pst_071.020
außerhalb der seelischen Zone. Er kann uns stören, sogar pst_071.021
verdüstern und so vielleicht, wenn er lange währt, pst_071.022
auf das Seelische Einfluß gewinnen. Die Seele selber pst_071.023
jedoch geht nicht in solchen körperlichen Schmerzen pst_071.024
auf. Ganz anders aber Hamlets «Herzweh» oder der pst_071.025
Wollustschauer Sapphos. Solche «Sensationen» oder pst_071.026
«Gefühle» sind die leibliche Realität der Stimmung, pst_071.027
die, diesseits aller Naturwissenschaft, den Ausspruch pst_071.028
Schleiermachers bewährt: «Seele sein, heißt Leib haben».
1 pst_071.029
a. a. O. Bd. VI, S. 204.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |