Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_060.001 "Ich will spiegeln mich in jenen Tagen, pst_060.005 pst_060.011Die wie Lindenwipfelwehn entflohn, pst_060.006 Wo die Silbersaite, angeschlagen, pst_060.007 Klar, doch bebend, gab den ersten Ton, pst_060.008 Der mein Leben lang, pst_060.009 Erst heut noch, widerklang, pst_060.010 Ob die Saite längst zerrissen schon." Vergangenes als Gegenstand einer Erzählung gehört pst_060.012 "Und da duftet's wie vor alters, pst_060.023 pst_060.024Da wir noch von Liebe litten ..." Düfte gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung pst_060.025 1 pst_060.028
Zu F. O. Müller, 4. November 1823. pst_060.001 «Ich will spiegeln mich in jenen Tagen, pst_060.005 pst_060.011Die wie Lindenwipfelwehn entflohn, pst_060.006 Wo die Silbersaite, angeschlagen, pst_060.007 Klar, doch bebend, gab den ersten Ton, pst_060.008 Der mein Leben lang, pst_060.009 Erst heut noch, widerklang, pst_060.010 Ob die Saite längst zerrissen schon.» Vergangenes als Gegenstand einer Erzählung gehört pst_060.012 «Und da duftet's wie vor alters, pst_060.023 pst_060.024Da wir noch von Liebe litten ...» Düfte gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung pst_060.025 1 pst_060.028
Zu F. O. Müller, 4. November 1823. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0064" n="60"/><lb n="pst_060.001"/> es sich noch und bewegt den Dichter und uns mit jener <lb n="pst_060.002"/> Magie, die Goethes Lied «An den Mond» ausstrahlt, <lb n="pst_060.003"/> die, nüchterner, Keller in «Jugendgedenken» preist:</p> <lb n="pst_060.004"/> <lg> <l>«Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,</l> <lb n="pst_060.005"/> <l>Die wie Lindenwipfelwehn entflohn,</l> <lb n="pst_060.006"/> <l>Wo die Silbersaite, angeschlagen,</l> <lb n="pst_060.007"/> <l>Klar, doch bebend, gab den ersten Ton,</l> <lb n="pst_060.008"/> <l> Der mein Leben lang,</l> <lb n="pst_060.009"/> <l> Erst heut noch, widerklang,</l> <lb n="pst_060.010"/> <l>Ob die Saite längst zerrissen schon.»</l> </lg> <lb n="pst_060.011"/> <p> Vergangenes als Gegenstand einer Erzählung gehört <lb n="pst_060.012"/> dem Gedächtnis an. Vergangenes als Thema des Lyrischen <lb n="pst_060.013"/> ist ein Schatz der Erinnerung. So sagt der alte <lb n="pst_060.014"/> Goethe: «Ich statuiere keine Erinnerung»<note xml:id="PST_060_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_060.028"/> Zu F. O. Müller, 4. November 1823.</note> und meint <lb n="pst_060.015"/> damit, er räume dem Vergangenen keine Macht über <lb n="pst_060.016"/> die Gegenwart ein. Die lyrischen Momente aber aus <lb n="pst_060.017"/> Goethes späteren Jahren entstammen alle doch der Erinnerung, <lb n="pst_060.018"/> «Dem aufgehenden Vollmond» zum Beispiel, <lb n="pst_060.019"/> wo die Begegnung mit Marianne von Willemer, <lb n="pst_060.020"/> die mehr als zehn Jahre zurückliegt, wieder die Seele <lb n="pst_060.021"/> erfüllt, oder schon jenes Divan-Gedicht:</p> <lb n="pst_060.022"/> <lg> <l>«Und da duftet's wie vor alters,</l> <lb n="pst_060.023"/> <l>Da wir noch von Liebe litten ...»</l> </lg> <lb n="pst_060.024"/> <p>Düfte gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung <lb n="pst_060.025"/> an. Es kann geschehen, daß wir einen Duft nicht <lb n="pst_060.026"/> im Gedächtnis behalten, wohl aber in der Erinnerung. <lb n="pst_060.027"/> Wenn er wieder aufsteigt, ist plötzlich ein längst vergangenes </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [60/0064]
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es sich noch und bewegt den Dichter und uns mit jener pst_060.002
Magie, die Goethes Lied «An den Mond» ausstrahlt, pst_060.003
die, nüchterner, Keller in «Jugendgedenken» preist:
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«Ich will spiegeln mich in jenen Tagen, pst_060.005
Die wie Lindenwipfelwehn entflohn, pst_060.006
Wo die Silbersaite, angeschlagen, pst_060.007
Klar, doch bebend, gab den ersten Ton, pst_060.008
Der mein Leben lang, pst_060.009
Erst heut noch, widerklang, pst_060.010
Ob die Saite längst zerrissen schon.»
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Vergangenes als Gegenstand einer Erzählung gehört pst_060.012
dem Gedächtnis an. Vergangenes als Thema des Lyrischen pst_060.013
ist ein Schatz der Erinnerung. So sagt der alte pst_060.014
Goethe: «Ich statuiere keine Erinnerung» 1 und meint pst_060.015
damit, er räume dem Vergangenen keine Macht über pst_060.016
die Gegenwart ein. Die lyrischen Momente aber aus pst_060.017
Goethes späteren Jahren entstammen alle doch der Erinnerung, pst_060.018
«Dem aufgehenden Vollmond» zum Beispiel, pst_060.019
wo die Begegnung mit Marianne von Willemer, pst_060.020
die mehr als zehn Jahre zurückliegt, wieder die Seele pst_060.021
erfüllt, oder schon jenes Divan-Gedicht:
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«Und da duftet's wie vor alters, pst_060.023
Da wir noch von Liebe litten ...»
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Düfte gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung pst_060.025
an. Es kann geschehen, daß wir einen Duft nicht pst_060.026
im Gedächtnis behalten, wohl aber in der Erinnerung. pst_060.027
Wenn er wieder aufsteigt, ist plötzlich ein längst vergangenes
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Zu F. O. Müller, 4. November 1823.
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