Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_059.001 Das macht uns weiterhin auf das grammatische Tempus pst_059.012 "Da fiel ich hin im Feld" pst_059.021ließe sich das Präteritum kaum mit dem Präsens vertauschen. pst_059.022 pst_059.001 Das macht uns weiterhin auf das grammatische Tempus pst_059.012 «Da fiel ich hin im Feld» pst_059.021ließe sich das Präteritum kaum mit dem Präsens vertauschen. pst_059.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0063" n="59"/><lb n="pst_059.001"/> Selbstbiographie. Denn wer ein Tagebuch schreibt, <lb n="pst_059.002"/> macht sich zum Gegenstand einer Reflexion. Er reflektiert, <lb n="pst_059.003"/> er beugt sich auf das eben Vergangene zurück. <lb n="pst_059.004"/> Damit er sich zurückbeugen kann, muß er sich vorher <lb n="pst_059.005"/> weggebeugt haben. Und in der Tat! Der Begriff bewährt <lb n="pst_059.006"/> sich in wörtlichster Bedeutung. Der Tagebuchschreiber <lb n="pst_059.007"/> befreit sich von jedem Tag, indem er Abstand nimmt <lb n="pst_059.008"/> und das Gewesene überdenkt. Gelingt ihm das nicht, <lb n="pst_059.009"/> spricht er unmittelbar, so fällt sein Tagebuch lyrisch <lb n="pst_059.010"/> aus.</p> <lb n="pst_059.011"/> <p> Das macht uns weiterhin auf das grammatische Tempus <lb n="pst_059.012"/> des Lyrischen aufmerksam. Im Lyrischen herrscht <lb n="pst_059.013"/> das Präsens vor, so sehr, daß es verlorene Mühe wäre, <lb n="pst_059.014"/> Beispiele aufzuzählen. Lehrreicher ist die Beobachtung, <lb n="pst_059.015"/> daß auch das Präteritum einen anderen Sinn hat als im <lb n="pst_059.016"/> Epischen. Wir lesen noch einmal Eichendorffs «Rückkehr» <lb n="pst_059.017"/> (Seite 40). Seltsam schwankt der Dichter zwischen <lb n="pst_059.018"/> Präsens und Präteritum, als komme es nicht so <lb n="pst_059.019"/> genau darauf an. Einzig im letzten Vers:</p> <lb n="pst_059.020"/> <lg> <l>«Da fiel ich hin im Feld»</l> </lg> <lb n="pst_059.021"/> <p>ließe sich das Präteritum kaum mit dem Präsens vertauschen. <lb n="pst_059.022"/> Denn dieser Vers erzählt ein Ereignis, das <lb n="pst_059.023"/> zurückliegt und deutlich in seinem zeitlichen Abstand <lb n="pst_059.024"/> aufgefaßt wird. Doch dieser Vers «klingt» auch nicht <lb n="pst_059.025"/> mehr. Eichendorff ist aus dem Zauber erwacht und <lb n="pst_059.026"/> spricht ihn wie verstört vor sich hin; das Lied ist aus. <lb n="pst_059.027"/> Die anderen Präterita aber, die mit dem Präsens vertauscht <lb n="pst_059.028"/> werden könnten, stellen keinen zeitlichen Abstand <lb n="pst_059.029"/> her. Das Vergangene, das sie meinen, ist nicht <lb n="pst_059.030"/> fern und nicht vorbei. Ungestaltet, unbegriffen bewegt </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [59/0063]
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Selbstbiographie. Denn wer ein Tagebuch schreibt, pst_059.002
macht sich zum Gegenstand einer Reflexion. Er reflektiert, pst_059.003
er beugt sich auf das eben Vergangene zurück. pst_059.004
Damit er sich zurückbeugen kann, muß er sich vorher pst_059.005
weggebeugt haben. Und in der Tat! Der Begriff bewährt pst_059.006
sich in wörtlichster Bedeutung. Der Tagebuchschreiber pst_059.007
befreit sich von jedem Tag, indem er Abstand nimmt pst_059.008
und das Gewesene überdenkt. Gelingt ihm das nicht, pst_059.009
spricht er unmittelbar, so fällt sein Tagebuch lyrisch pst_059.010
aus.
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Das macht uns weiterhin auf das grammatische Tempus pst_059.012
des Lyrischen aufmerksam. Im Lyrischen herrscht pst_059.013
das Präsens vor, so sehr, daß es verlorene Mühe wäre, pst_059.014
Beispiele aufzuzählen. Lehrreicher ist die Beobachtung, pst_059.015
daß auch das Präteritum einen anderen Sinn hat als im pst_059.016
Epischen. Wir lesen noch einmal Eichendorffs «Rückkehr» pst_059.017
(Seite 40). Seltsam schwankt der Dichter zwischen pst_059.018
Präsens und Präteritum, als komme es nicht so pst_059.019
genau darauf an. Einzig im letzten Vers:
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«Da fiel ich hin im Feld»
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ließe sich das Präteritum kaum mit dem Präsens vertauschen. pst_059.022
Denn dieser Vers erzählt ein Ereignis, das pst_059.023
zurückliegt und deutlich in seinem zeitlichen Abstand pst_059.024
aufgefaßt wird. Doch dieser Vers «klingt» auch nicht pst_059.025
mehr. Eichendorff ist aus dem Zauber erwacht und pst_059.026
spricht ihn wie verstört vor sich hin; das Lied ist aus. pst_059.027
Die anderen Präterita aber, die mit dem Präsens vertauscht pst_059.028
werden könnten, stellen keinen zeitlichen Abstand pst_059.029
her. Das Vergangene, das sie meinen, ist nicht pst_059.030
fern und nicht vorbei. Ungestaltet, unbegriffen bewegt
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