pst_052.001 der Kunst, in wenigen, einleitenden Takten eine Beschwörungsformel pst_052.002 zu geben, die alles, was nicht zum pst_052.003 Text gehört, verbannt und die Trägheit des Herzens pst_052.004 löst. Sie haben mit ihrer Musik den Menschen deutscher pst_052.005 Zunge unermeßliche Schätze der lyrischen Dichtung pst_052.006 erschlossen, Hugo Wolf zumal, der immer auf treueste pst_052.007 Auslegung bedacht ist und kaum je über das Wort des pst_052.008 Dichters hinwegmusiziert.
pst_052.009
Aber auch im Konzertsaal bleibt der Hörer für sich pst_052.010 allein mit dem Lied. Es schließt die Einzelnen nicht zusammen pst_052.011 wie eine Symphonie von Haydn, wo jeder sich pst_052.012 zu verbindlicher Neigung zu seinem Nachbarn genötigt pst_052.013 fühlt, oder wie ein Finale Beethovens, dem man zutraut, pst_052.014 daß es alle zum Aufstehen in einem entschlossenen Ruck pst_052.015 zu bewegen vermöchte. Der Beifall, der bei solcher Musik pst_052.016 am Platz ist, verletzt uns nach lyrischen Liedern. pst_052.017 Denn da waren wir einsam und sollen nun auf einmal pst_052.018 wieder mit anderen sein.
pst_052.019
Goethe und Schiller sind, im Bestreben, die Gattungsgesetze pst_052.020 der epischen und dramatischen Poesie zu pst_052.021 finden, vom Verhältnis des Rhapsoden und Mimen zum pst_052.022 Publikum ausgegangen1. Ähnliches ließe sich für die pst_052.023 Lyrik, die sie nicht berühren, leisten:
pst_052.024
Wer sich an niemand wendet und nur einzelne Gleichgestimmte pst_052.025 angeht, braucht keine Überredungskunst. pst_052.026 Die Idee des Lyrischen schließt alle rhetorische Wirkung pst_052.027 aus. Wer nur von Gleichgestimmten vernommen werden pst_052.028 soll, braucht nicht zu begründen. Begründen in lyrischer pst_052.029 Dichtung ist unfein, so unfein, wie wenn ein
1pst_052.030 Briefwechsel vom 23. und 26. Dezember 1797.
pst_052.001 der Kunst, in wenigen, einleitenden Takten eine Beschwörungsformel pst_052.002 zu geben, die alles, was nicht zum pst_052.003 Text gehört, verbannt und die Trägheit des Herzens pst_052.004 löst. Sie haben mit ihrer Musik den Menschen deutscher pst_052.005 Zunge unermeßliche Schätze der lyrischen Dichtung pst_052.006 erschlossen, Hugo Wolf zumal, der immer auf treueste pst_052.007 Auslegung bedacht ist und kaum je über das Wort des pst_052.008 Dichters hinwegmusiziert.
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Aber auch im Konzertsaal bleibt der Hörer für sich pst_052.010 allein mit dem Lied. Es schließt die Einzelnen nicht zusammen pst_052.011 wie eine Symphonie von Haydn, wo jeder sich pst_052.012 zu verbindlicher Neigung zu seinem Nachbarn genötigt pst_052.013 fühlt, oder wie ein Finale Beethovens, dem man zutraut, pst_052.014 daß es alle zum Aufstehen in einem entschlossenen Ruck pst_052.015 zu bewegen vermöchte. Der Beifall, der bei solcher Musik pst_052.016 am Platz ist, verletzt uns nach lyrischen Liedern. pst_052.017 Denn da waren wir einsam und sollen nun auf einmal pst_052.018 wieder mit anderen sein.
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Goethe und Schiller sind, im Bestreben, die Gattungsgesetze pst_052.020 der epischen und dramatischen Poesie zu pst_052.021 finden, vom Verhältnis des Rhapsoden und Mimen zum pst_052.022 Publikum ausgegangen1. Ähnliches ließe sich für die pst_052.023 Lyrik, die sie nicht berühren, leisten:
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Wer sich an niemand wendet und nur einzelne Gleichgestimmte pst_052.025 angeht, braucht keine Überredungskunst. pst_052.026 Die Idee des Lyrischen schließt alle rhetorische Wirkung pst_052.027 aus. Wer nur von Gleichgestimmten vernommen werden pst_052.028 soll, braucht nicht zu begründen. Begründen in lyrischer pst_052.029 Dichtung ist unfein, so unfein, wie wenn ein
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Aber auch im Konzertsaal bleibt der Hörer für sich pst_052.010
allein mit dem Lied. Es schließt die Einzelnen nicht zusammen pst_052.011
wie eine Symphonie von Haydn, wo jeder sich pst_052.012
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Goethe und Schiller sind, im Bestreben, die Gattungsgesetze pst_052.020
der epischen und dramatischen Poesie zu pst_052.021
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Publikum ausgegangen 1. Ähnliches ließe sich für die pst_052.023
Lyrik, die sie nicht berühren, leisten:
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Wer sich an niemand wendet und nur einzelne Gleichgestimmte pst_052.025
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Briefwechsel vom 23. und 26. Dezember 1797.
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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/56>, abgerufen am 16.07.2024.
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