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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Was der Lyriker erinnert, vergegenwärtigt der Epiker. pst_236.002
Das heißt, er hält sich das Leben, wie immer es pst_236.003
auch datiert sei, gegenüber. Ob er vom Sündenfall pst_236.004
Adam und Evas oder vom Jüngsten Gericht erzählt: er pst_236.005
stellt uns alles so vor Augen, als hätte er es mit Augen pst_236.006
gesehen. Wir sagen also nicht, er halte sich auf bei dem, pst_236.007
was jetzt geschieht. Das trifft nur dann zu, wenn er sich pst_236.008
einmal entschließt, seine eigene Zeit zu schildern, wie pst_236.009
Goethe in "Hermann und Dorothea". Wohl aber bildet pst_236.010
er Gegenwart und begründet vergegenwärtigtes pst_236.011
Leben, indem er zeigt, woher es kommt. Seine Kunst pst_236.012
ist am leichtesten zu verstehen, weil sich unser alltägliches pst_236.013
Dasein meist in epischen Bahnen bewegt. Auch pst_236.014
wir vergegenwärtigen uns gemeinhin Vergangenes und pst_236.015
malen uns, vergegenwärtigend, Künftiges aus. Ein solches pst_236.016
Verhalten zum Künftigen aber hat nichts mit dramatischem pst_236.017
Dasein zu tun. Sondern da wäre nun zu pst_236.018
sagen:

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Was der Epiker vergegenwärtigt, entwirft der Dramatiker. pst_236.020
Er lebt so wenig "im" Künftigen wie der Epiker pst_236.021
"in" der Gegenwart. Aber sein Dasein ist gerichtet, pst_236.022
gespannt auf das, worauf es hinaus will. Das, worauf es pst_236.023
hinaus will, worauf es ankommt, faßt er im voraus ins pst_236.024
Auge. In problematischer Dichtung ist ihm von vornherein pst_236.025
klar, worauf es ankommt; in pathetischer sichtet pst_236.026
er noch und sucht im Dunkel nach einem Ziel. Doch pst_236.027
hier wie dort zieht er sich gleichsam in eine vorausgesetzte pst_236.028
Zukunft nach. In solchem Voraussetzen gründet pst_236.029
das Urteil. Beurteilen kann ich nur, sofern ich etwas im pst_236.030
Hinblick auf eine vorausgesetzte Ordnung betrachte. pst_236.031
Der Ausdruck "Hinblick auf ..." faßt alle Möglichkeiten

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  Was der Lyriker erinnert, vergegenwärtigt der Epiker. pst_236.002
Das heißt, er hält sich das Leben, wie immer es pst_236.003
auch datiert sei, gegenüber. Ob er vom Sündenfall pst_236.004
Adam und Evas oder vom Jüngsten Gericht erzählt: er pst_236.005
stellt uns alles so vor Augen, als hätte er es mit Augen pst_236.006
gesehen. Wir sagen also nicht, er halte sich auf bei dem, pst_236.007
was jetzt geschieht. Das trifft nur dann zu, wenn er sich pst_236.008
einmal entschließt, seine eigene Zeit zu schildern, wie pst_236.009
Goethe in «Hermann und Dorothea». Wohl aber bildet pst_236.010
er Gegenwart und begründet vergegenwärtigtes pst_236.011
Leben, indem er zeigt, woher es kommt. Seine Kunst pst_236.012
ist am leichtesten zu verstehen, weil sich unser alltägliches pst_236.013
Dasein meist in epischen Bahnen bewegt. Auch pst_236.014
wir vergegenwärtigen uns gemeinhin Vergangenes und pst_236.015
malen uns, vergegenwärtigend, Künftiges aus. Ein solches pst_236.016
Verhalten zum Künftigen aber hat nichts mit dramatischem pst_236.017
Dasein zu tun. Sondern da wäre nun zu pst_236.018
sagen:

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  Was der Epiker vergegenwärtigt, entwirft der Dramatiker. pst_236.020
Er lebt so wenig «im» Künftigen wie der Epiker pst_236.021
«in» der Gegenwart. Aber sein Dasein ist gerichtet, pst_236.022
gespannt auf das, worauf es hinaus will. Das, worauf es pst_236.023
hinaus will, worauf es ankommt, faßt er im voraus ins pst_236.024
Auge. In problematischer Dichtung ist ihm von vornherein pst_236.025
klar, worauf es ankommt; in pathetischer sichtet pst_236.026
er noch und sucht im Dunkel nach einem Ziel. Doch pst_236.027
hier wie dort zieht er sich gleichsam in eine vorausgesetzte pst_236.028
Zukunft nach. In solchem Voraussetzen gründet pst_236.029
das Urteil. Beurteilen kann ich nur, sofern ich etwas im pst_236.030
Hinblick auf eine vorausgesetzte Ordnung betrachte. pst_236.031
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/240>, abgerufen am 25.11.2024.