Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_233.001 pst_233.006 pst_233.014Willst du nach den Früchten greifen, pst_233.007 Eilig nimm dein Teil davon! pst_233.008 Diese fangen an zu reifen, pst_233.009 Und die andern keimen schon; pst_233.010 Gleich mit jedem Regengusse pst_233.011 Ändert sich dein holdes Tal, pst_233.012 Ach, und in demselben Flusse pst_233.013 Schwimmst du nicht zum zweitenmal."1 Auch wenn wir je, von außen gesehen, "dasselbe" noch pst_233.015 "Du nun selbst! Was felsenfeste pst_233.020 Sich vor dir hervorgetan, pst_233.021 Mauern siehst du, siehst Paläste pst_233.022 Stets mit andern Augen an. pst_233.023 Weggeschwunden ist die Lippe, pst_233.024 Die im Kusse sonst genas, pst_233.025 Jener Fuß, der an der Klippe pst_233.026 Sich mit Gemsenfreche maß. pst_233.027 Jene Hand, die gern und milde pst_233.028 Sich bewegte, wohlzutun, pst_233.029 Das gegliederte Gebilde, 1 pst_233.030
Goethe a. a. O. XIV, S. 490. pst_233.001 pst_233.006 pst_233.014Willst du nach den Früchten greifen, pst_233.007 Eilig nimm dein Teil davon! pst_233.008 Diese fangen an zu reifen, pst_233.009 Und die andern keimen schon; pst_233.010 Gleich mit jedem Regengusse pst_233.011 Ändert sich dein holdes Tal, pst_233.012 Ach, und in demselben Flusse pst_233.013 Schwimmst du nicht zum zweitenmal.»1 Auch wenn wir je, von außen gesehen, «dasselbe» noch pst_233.015 «Du nun selbst! Was felsenfeste pst_233.020 Sich vor dir hervorgetan, pst_233.021 Mauern siehst du, siehst Paläste pst_233.022 Stets mit andern Augen an. pst_233.023 Weggeschwunden ist die Lippe, pst_233.024 Die im Kusse sonst genas, pst_233.025 Jener Fuß, der an der Klippe pst_233.026 Sich mit Gemsenfreche maß. pst_233.027 Jene Hand, die gern und milde pst_233.028 Sich bewegte, wohlzutun, pst_233.029 Das gegliederte Gebilde, 1 pst_233.030
Goethe a. a. O. XIV, S. 490. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <lg> <pb facs="#f0237" n="233"/> <lb n="pst_233.001"/> <l>Schüttelt schon der laue West.</l> <lb n="pst_233.002"/> <l>Soll ich mich des Grünen freuen,</l> <lb n="pst_233.003"/> <l>Dem ich Schatten erst verdankt?</l> <lb n="pst_233.004"/> <l>Bald wird Sturm auch das zerstreuen,</l> <lb n="pst_233.005"/> <l>Wenn es falb im Herbst geschwankt. </l> </lg> <lg> <lb n="pst_233.006"/> <l>Willst du nach den Früchten greifen,</l> <lb n="pst_233.007"/> <l>Eilig nimm dein Teil davon!</l> <lb n="pst_233.008"/> <l>Diese fangen an zu reifen,</l> <lb n="pst_233.009"/> <l>Und die andern keimen schon;</l> <lb n="pst_233.010"/> <l>Gleich mit jedem Regengusse</l> <lb n="pst_233.011"/> <l>Ändert sich dein holdes Tal,</l> <lb n="pst_233.012"/> <l>Ach, und in demselben Flusse</l> <lb n="pst_233.013"/> <l>Schwimmst du nicht zum zweitenmal.»<note xml:id="PST_233_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_233.030"/> Goethe a. a. O. XIV, S. 490.</note></l> </lg> <lb n="pst_233.014"/> <p>Auch wenn wir je, von außen gesehen, «dasselbe» noch <lb n="pst_233.015"/> einmal erinnern sollten, in lyrischer Stimmung gleicht <lb n="pst_233.016"/> es sich nicht. Der Jüngling erinnert sich seiner Kindheit <lb n="pst_233.017"/> anders als der Mann und der Greis. Es gibt hier keine <lb n="pst_233.018"/> Identität.</p> <lb n="pst_233.019"/> <lg> <l>«Du nun selbst! Was felsenfeste</l> <lb n="pst_233.020"/> <l>Sich vor dir hervorgetan,</l> <lb n="pst_233.021"/> <l>Mauern siehst du, siehst Paläste</l> <lb n="pst_233.022"/> <l>Stets mit andern Augen an.</l> <lb n="pst_233.023"/> <l>Weggeschwunden ist die Lippe,</l> <lb n="pst_233.024"/> <l>Die im Kusse sonst genas,</l> <lb n="pst_233.025"/> <l>Jener Fuß, der an der Klippe</l> <lb n="pst_233.026"/> <l>Sich mit Gemsenfreche maß. </l> </lg> <lg> <lb n="pst_233.027"/> <l>Jene Hand, die gern und milde</l> <lb n="pst_233.028"/> <l>Sich bewegte, wohlzutun,</l> <lb n="pst_233.029"/> <l>Das gegliederte Gebilde,</l> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [233/0237]
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Schüttelt schon der laue West. pst_233.002
Soll ich mich des Grünen freuen, pst_233.003
Dem ich Schatten erst verdankt? pst_233.004
Bald wird Sturm auch das zerstreuen, pst_233.005
Wenn es falb im Herbst geschwankt.
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Willst du nach den Früchten greifen, pst_233.007
Eilig nimm dein Teil davon! pst_233.008
Diese fangen an zu reifen, pst_233.009
Und die andern keimen schon; pst_233.010
Gleich mit jedem Regengusse pst_233.011
Ändert sich dein holdes Tal, pst_233.012
Ach, und in demselben Flusse pst_233.013
Schwimmst du nicht zum zweitenmal.» 1
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Auch wenn wir je, von außen gesehen, «dasselbe» noch pst_233.015
einmal erinnern sollten, in lyrischer Stimmung gleicht pst_233.016
es sich nicht. Der Jüngling erinnert sich seiner Kindheit pst_233.017
anders als der Mann und der Greis. Es gibt hier keine pst_233.018
Identität.
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«Du nun selbst! Was felsenfeste pst_233.020
Sich vor dir hervorgetan, pst_233.021
Mauern siehst du, siehst Paläste pst_233.022
Stets mit andern Augen an. pst_233.023
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Sich mit Gemsenfreche maß.
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Jene Hand, die gern und milde pst_233.028
Sich bewegte, wohlzutun, pst_233.029
Das gegliederte Gebilde,
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Goethe a. a. O. XIV, S. 490.
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Zitationshilfe: | Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/237>, abgerufen am 16.02.2025. |