pst_230.001 In der falschen Anwendung des Zeichens besteht der pst_230.002 Irrtum und der Betrug. Was ihn ermöglicht, ist der Abstand, pst_230.003 den der Geist von den Dingen nimmt. Eine warnende pst_230.004 Stimme ruft ihn zurück. Der Mann erkennt, pst_230.005 warum ihn ein unermeßliches Sehnen zur Frau hinzieht. pst_230.006 Jede Gebärde der Liebe, der Kuß, der Verzicht pst_230.007 auf die freie, aufrechte Haltung, das Hinsinken und die pst_230.008 Vereinigung, in der ihn ein Vergessen alles gegenständlich pst_230.009 gewordenen Lebens und damit seines Selbst überkommt, pst_230.010 auf daß er es neu aus dem Ursprung gewinne: pst_230.011 jede Gebärde zeugt davon, wie viel der Geist der Seele pst_230.012 schuldet. Ähnlich ist es mit dem Erinnern der frühesten pst_230.013 Tage der Kindheit bestellt, da unser Geist unkräftig, pst_230.014 aber die Seele umso reicher war. Wer nicht mehr aus pst_230.015 der Tiefe solcher Erinnerung schöpfen kann und keine pst_230.016 Liebe erfahren durfte, verarmt. Wer freilich nur in der pst_230.017 Erinnerung bleibt, vermag sich selber nicht zu fassen pst_230.018 und anderen sich nicht mitzuteilen; der ist, ein dumpfer pst_230.019 Geist, auf wenige Gleichgestimmte angewiesen und pst_230.020 unzugänglich für den Anspruch einer sicher verbürgten pst_230.021 Gemeinschaft. Denn verbürgt, gefestigt wird eine Gemeinschaft pst_230.022 nur im dramatischen Geist, in explizit erfaßter pst_230.023 Welt, wo jedermann weiß, worum es geht, und pst_230.024 Worte des Glaubens und allgemein verbindliche Gesetze pst_230.025 ausgeprägt sind. Der Prinz von Homburg kennt pst_230.026 den Weg vom lyrischen zum dramatischen Sein, von pst_230.027 der träumerischen Individualität zum Selbst, das Träger pst_230.028 gemeinsamen Geistes ist. Wenn man absieht von der pst_230.029 moralischen Basis seiner Problemstellung, hat auch pst_230.030 Schiller in den "Briefen über die ästhetische Erziehung pst_230.031 des Menschen" dasselbe auszusprechen versucht. Die
pst_230.001 In der falschen Anwendung des Zeichens besteht der pst_230.002 Irrtum und der Betrug. Was ihn ermöglicht, ist der Abstand, pst_230.003 den der Geist von den Dingen nimmt. Eine warnende pst_230.004 Stimme ruft ihn zurück. Der Mann erkennt, pst_230.005 warum ihn ein unermeßliches Sehnen zur Frau hinzieht. pst_230.006 Jede Gebärde der Liebe, der Kuß, der Verzicht pst_230.007 auf die freie, aufrechte Haltung, das Hinsinken und die pst_230.008 Vereinigung, in der ihn ein Vergessen alles gegenständlich pst_230.009 gewordenen Lebens und damit seines Selbst überkommt, pst_230.010 auf daß er es neu aus dem Ursprung gewinne: pst_230.011 jede Gebärde zeugt davon, wie viel der Geist der Seele pst_230.012 schuldet. Ähnlich ist es mit dem Erinnern der frühesten pst_230.013 Tage der Kindheit bestellt, da unser Geist unkräftig, pst_230.014 aber die Seele umso reicher war. Wer nicht mehr aus pst_230.015 der Tiefe solcher Erinnerung schöpfen kann und keine pst_230.016 Liebe erfahren durfte, verarmt. Wer freilich nur in der pst_230.017 Erinnerung bleibt, vermag sich selber nicht zu fassen pst_230.018 und anderen sich nicht mitzuteilen; der ist, ein dumpfer pst_230.019 Geist, auf wenige Gleichgestimmte angewiesen und pst_230.020 unzugänglich für den Anspruch einer sicher verbürgten pst_230.021 Gemeinschaft. Denn verbürgt, gefestigt wird eine Gemeinschaft pst_230.022 nur im dramatischen Geist, in explizit erfaßter pst_230.023 Welt, wo jedermann weiß, worum es geht, und pst_230.024 Worte des Glaubens und allgemein verbindliche Gesetze pst_230.025 ausgeprägt sind. Der Prinz von Homburg kennt pst_230.026 den Weg vom lyrischen zum dramatischen Sein, von pst_230.027 der träumerischen Individualität zum Selbst, das Träger pst_230.028 gemeinsamen Geistes ist. Wenn man absieht von der pst_230.029 moralischen Basis seiner Problemstellung, hat auch pst_230.030 Schiller in den «Briefen über die ästhetische Erziehung pst_230.031 des Menschen» dasselbe auszusprechen versucht. Die
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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/234>, abgerufen am 16.02.2025.
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