Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_224.001
schon im Ganzen ausgebildet hat, da also der Mensch pst_224.002
bereits die Stufe des Dramatischen betritt, von der aus pst_224.003
Lyrisches oder Episches erst einen Vorrang gewinnen pst_224.004
kann. Diesen Sachverhalt beachtet der Literarhistoriker pst_224.005
nicht, weil er sich seinem Nachweis entzieht. Er pst_224.006
greift auf die ältesten Texte zurück und findet schon pst_224.007
dort die Poesie, die an allen Gattungen Anteil hat. Mag pst_224.008
die Problematik immerhin noch wenig ausgebildet, die pst_224.009
Funktionalität im Satz oder in der Erzählung primitiv pst_224.010
sein: ohne Vorwurf, ohne Spannung irgendwelcher Art pst_224.011
geht auch der naivste Dichter nicht ans Werk. Warum pst_224.012
aber dann zunächst das Lyrische oder das Epische mehr pst_224.013
hervortritt, darüber kann uns keine "Philosophie der pst_224.014
Dichtung", sondern allein historisches Studium der unwiederholbaren pst_224.015
Lage eines Volkes, eines Dichters einige pst_224.016
Klarheit verschaffen.

pst_224.017

Wir nähern uns dem Punkt, wo sich zeigen muß, was pst_224.018
das Wesen einer Gattung eigentlich ist und worin sie pst_224.019
gründet. Hier nämlich, wo systematische Wissenschaft pst_224.020
von der Dichtung versagt, helfen Philosophie und Geschichte pst_224.021
der Sprache weiter. Die Stufenfolge lyrisch - pst_224.022
episch - dramatisch, Silbe - Wort - Satz entspricht den pst_224.023
von Cassirer1 beschriebenen Stufen der Sprache: die pst_224.024
Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks, die pst_224.025
Sprache in der Phase des anschaulichen Ausdrucks, die pst_224.026
Sprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens. Die pst_224.027
"Philosophie der symbolischen Formen" verfolgt im ersten pst_224.028
Band den Weg der Sprache mit solcher Aufmerksamkeit, pst_224.029
daß wir nichts beizufügen haben, sondern uns

1 pst_224.030
Philosophie der symbolischen Formen, I. Teil, Berlin 1923.

pst_224.001
schon im Ganzen ausgebildet hat, da also der Mensch pst_224.002
bereits die Stufe des Dramatischen betritt, von der aus pst_224.003
Lyrisches oder Episches erst einen Vorrang gewinnen pst_224.004
kann. Diesen Sachverhalt beachtet der Literarhistoriker pst_224.005
nicht, weil er sich seinem Nachweis entzieht. Er pst_224.006
greift auf die ältesten Texte zurück und findet schon pst_224.007
dort die Poesie, die an allen Gattungen Anteil hat. Mag pst_224.008
die Problematik immerhin noch wenig ausgebildet, die pst_224.009
Funktionalität im Satz oder in der Erzählung primitiv pst_224.010
sein: ohne Vorwurf, ohne Spannung irgendwelcher Art pst_224.011
geht auch der naivste Dichter nicht ans Werk. Warum pst_224.012
aber dann zunächst das Lyrische oder das Epische mehr pst_224.013
hervortritt, darüber kann uns keine «Philosophie der pst_224.014
Dichtung», sondern allein historisches Studium der unwiederholbaren pst_224.015
Lage eines Volkes, eines Dichters einige pst_224.016
Klarheit verschaffen.

pst_224.017

  Wir nähern uns dem Punkt, wo sich zeigen muß, was pst_224.018
das Wesen einer Gattung eigentlich ist und worin sie pst_224.019
gründet. Hier nämlich, wo systematische Wissenschaft pst_224.020
von der Dichtung versagt, helfen Philosophie und Geschichte pst_224.021
der Sprache weiter. Die Stufenfolge lyrisch – pst_224.022
episch – dramatisch, Silbe – Wort – Satz entspricht den pst_224.023
von Cassirer1 beschriebenen Stufen der Sprache: die pst_224.024
Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks, die pst_224.025
Sprache in der Phase des anschaulichen Ausdrucks, die pst_224.026
Sprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens. Die pst_224.027
«Philosophie der symbolischen Formen» verfolgt im ersten pst_224.028
Band den Weg der Sprache mit solcher Aufmerksamkeit, pst_224.029
daß wir nichts beizufügen haben, sondern uns

1 pst_224.030
Philosophie der symbolischen Formen, I. Teil, Berlin 1923.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0228" n="224"/><lb n="pst_224.001"/>
schon im Ganzen ausgebildet hat, da also der Mensch <lb n="pst_224.002"/>
bereits die Stufe des Dramatischen betritt, von der aus <lb n="pst_224.003"/>
Lyrisches oder Episches erst einen Vorrang gewinnen <lb n="pst_224.004"/>
kann. Diesen Sachverhalt beachtet der Literarhistoriker <lb n="pst_224.005"/>
nicht, weil er sich seinem Nachweis entzieht. Er <lb n="pst_224.006"/>
greift auf die ältesten Texte zurück und findet schon <lb n="pst_224.007"/>
dort die Poesie, die an allen Gattungen Anteil hat. Mag <lb n="pst_224.008"/>
die Problematik immerhin noch wenig ausgebildet, die <lb n="pst_224.009"/>
Funktionalität im Satz oder in der Erzählung primitiv <lb n="pst_224.010"/>
sein: ohne Vorwurf, ohne Spannung irgendwelcher Art <lb n="pst_224.011"/>
geht auch der naivste Dichter nicht ans Werk. Warum <lb n="pst_224.012"/>
aber dann zunächst das Lyrische oder das Epische mehr <lb n="pst_224.013"/>
hervortritt, darüber kann uns keine «Philosophie der <lb n="pst_224.014"/>
Dichtung», sondern allein historisches Studium der unwiederholbaren <lb n="pst_224.015"/>
Lage eines Volkes, eines Dichters einige <lb n="pst_224.016"/>
Klarheit verschaffen.</p>
        <lb n="pst_224.017"/>
        <p>  Wir nähern uns dem Punkt, wo sich zeigen muß, was <lb n="pst_224.018"/>
das Wesen einer Gattung eigentlich ist und worin sie <lb n="pst_224.019"/>
gründet. Hier nämlich, wo systematische Wissenschaft <lb n="pst_224.020"/>
von der Dichtung versagt, helfen Philosophie und Geschichte <lb n="pst_224.021"/>
der Sprache weiter. Die Stufenfolge lyrisch &#x2013; <lb n="pst_224.022"/>
episch &#x2013; dramatisch, Silbe &#x2013; Wort &#x2013; Satz entspricht den <lb n="pst_224.023"/>
von Cassirer<note xml:id="PST_224_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_224.030"/>
Philosophie der symbolischen Formen, I. Teil, Berlin 1923.</note> beschriebenen Stufen der Sprache: die <lb n="pst_224.024"/>
Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks, die <lb n="pst_224.025"/>
Sprache in der Phase des anschaulichen Ausdrucks, die <lb n="pst_224.026"/>
Sprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens. Die <lb n="pst_224.027"/>
«Philosophie der symbolischen Formen» verfolgt im ersten <lb n="pst_224.028"/>
Band den Weg der Sprache mit solcher Aufmerksamkeit, <lb n="pst_224.029"/>
daß wir nichts beizufügen haben, sondern uns
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[224/0228] pst_224.001 schon im Ganzen ausgebildet hat, da also der Mensch pst_224.002 bereits die Stufe des Dramatischen betritt, von der aus pst_224.003 Lyrisches oder Episches erst einen Vorrang gewinnen pst_224.004 kann. Diesen Sachverhalt beachtet der Literarhistoriker pst_224.005 nicht, weil er sich seinem Nachweis entzieht. Er pst_224.006 greift auf die ältesten Texte zurück und findet schon pst_224.007 dort die Poesie, die an allen Gattungen Anteil hat. Mag pst_224.008 die Problematik immerhin noch wenig ausgebildet, die pst_224.009 Funktionalität im Satz oder in der Erzählung primitiv pst_224.010 sein: ohne Vorwurf, ohne Spannung irgendwelcher Art pst_224.011 geht auch der naivste Dichter nicht ans Werk. Warum pst_224.012 aber dann zunächst das Lyrische oder das Epische mehr pst_224.013 hervortritt, darüber kann uns keine «Philosophie der pst_224.014 Dichtung», sondern allein historisches Studium der unwiederholbaren pst_224.015 Lage eines Volkes, eines Dichters einige pst_224.016 Klarheit verschaffen. pst_224.017   Wir nähern uns dem Punkt, wo sich zeigen muß, was pst_224.018 das Wesen einer Gattung eigentlich ist und worin sie pst_224.019 gründet. Hier nämlich, wo systematische Wissenschaft pst_224.020 von der Dichtung versagt, helfen Philosophie und Geschichte pst_224.021 der Sprache weiter. Die Stufenfolge lyrisch – pst_224.022 episch – dramatisch, Silbe – Wort – Satz entspricht den pst_224.023 von Cassirer 1 beschriebenen Stufen der Sprache: die pst_224.024 Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks, die pst_224.025 Sprache in der Phase des anschaulichen Ausdrucks, die pst_224.026 Sprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens. Die pst_224.027 «Philosophie der symbolischen Formen» verfolgt im ersten pst_224.028 Band den Weg der Sprache mit solcher Aufmerksamkeit, pst_224.029 daß wir nichts beizufügen haben, sondern uns 1 pst_224.030 Philosophie der symbolischen Formen, I. Teil, Berlin 1923.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/228
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/228>, abgerufen am 25.11.2024.