pst_220.001 Typus der Pflanze dar. Die "Urpflanze" gibt es in Wirklichkeit pst_220.002 nicht, so wenig es ein rein lyrisches, rein episches pst_220.003 oder rein dramatisches Werk gibt. Doch bei der Pflanze pst_220.004 bedeutet das nur, daß jede einzelne bestimmt und durch pst_220.005 tausend Zufälligkeiten bedingt ist. Auch in solcher Bedingtheit pst_220.006 aber bleibt die Pflanze nichts als Pflanze. Die pst_220.007 rote Farbe, die zackigen Blätter, die für den Typus indifferent pst_220.008 sind, nähern sie nicht der Tierwelt oder dem pst_220.009 Reich des Anorganischen an, sondern zeigen den Typus pst_220.010 individualisiert. Ein lyrisches Gedicht dagegen kann, pst_220.011 gerade weil es ein Gedicht ist, nicht bloß lyrisch sein. Es pst_220.012 nimmt in verschiedenen Graden und Arten an allen pst_220.013 Gattungsideen teil, und nur ein Vorrang des Lyrischen pst_220.014 bestimmt uns, die Verse lyrisch zu nennen.
pst_220.015
Diesen Sachverhalt, auf den des öftern hingewiesen pst_220.016 wurde, müssen wir endlich genauer erkennen. Dann pst_220.017 erst kann sich zeigen, was die Gattungsideen eigentlich pst_220.018 sind, und worin die alte Dreiteilung gründet.
pst_220.019
Es ist keine bloße Analogie, wenn wir, um das Verhältnis pst_220.020 von lyrisch-episch-dramatisch zu erklären, an das pst_220.021 Verhältnis von Silbe, Wort und Satz erinnern. Die Silbe pst_220.022 darf als das eigentlich lyrische Element der Sprache gelten. pst_220.023 Sie bedeutet nichts, sie verlautet nur und ist so pst_220.024 zwar des Ausdrucks, aber nicht der festen Bezeichnung pst_220.025 fähig. Auf Silbenfolgen wie eia popeia, ach, eleleu, pst_220.026 ailinon, om, sind wir als auf letzte musikalische Sprachphänomene pst_220.027 gestoßen. Sie stellen keinen Gegenstand pst_220.028 fest. Sie entbehren der Intentionalität. Wohl aber sind pst_220.029 sie unmittelbar verständlich als "Schreie der Empfindung", pst_220.030 wie Herder sie beschrieben hat (vergleiche pst_220.031 Seite 58). Wo immer in der Sprache sich die Macht der
pst_220.001 Typus der Pflanze dar. Die «Urpflanze» gibt es in Wirklichkeit pst_220.002 nicht, so wenig es ein rein lyrisches, rein episches pst_220.003 oder rein dramatisches Werk gibt. Doch bei der Pflanze pst_220.004 bedeutet das nur, daß jede einzelne bestimmt und durch pst_220.005 tausend Zufälligkeiten bedingt ist. Auch in solcher Bedingtheit pst_220.006 aber bleibt die Pflanze nichts als Pflanze. Die pst_220.007 rote Farbe, die zackigen Blätter, die für den Typus indifferent pst_220.008 sind, nähern sie nicht der Tierwelt oder dem pst_220.009 Reich des Anorganischen an, sondern zeigen den Typus pst_220.010 individualisiert. Ein lyrisches Gedicht dagegen kann, pst_220.011 gerade weil es ein Gedicht ist, nicht bloß lyrisch sein. Es pst_220.012 nimmt in verschiedenen Graden und Arten an allen pst_220.013 Gattungsideen teil, und nur ein Vorrang des Lyrischen pst_220.014 bestimmt uns, die Verse lyrisch zu nennen.
pst_220.015
Diesen Sachverhalt, auf den des öftern hingewiesen pst_220.016 wurde, müssen wir endlich genauer erkennen. Dann pst_220.017 erst kann sich zeigen, was die Gattungsideen eigentlich pst_220.018 sind, und worin die alte Dreiteilung gründet.
pst_220.019
Es ist keine bloße Analogie, wenn wir, um das Verhältnis pst_220.020 von lyrisch-episch-dramatisch zu erklären, an das pst_220.021 Verhältnis von Silbe, Wort und Satz erinnern. Die Silbe pst_220.022 darf als das eigentlich lyrische Element der Sprache gelten. pst_220.023 Sie bedeutet nichts, sie verlautet nur und ist so pst_220.024 zwar des Ausdrucks, aber nicht der festen Bezeichnung pst_220.025 fähig. Auf Silbenfolgen wie eia popeia, ach, ἐλελεῦ, pst_220.026 αἴλινον, om, sind wir als auf letzte musikalische Sprachphänomene pst_220.027 gestoßen. Sie stellen keinen Gegenstand pst_220.028 fest. Sie entbehren der Intentionalität. Wohl aber sind pst_220.029 sie unmittelbar verständlich als «Schreie der Empfindung», pst_220.030 wie Herder sie beschrieben hat (vergleiche pst_220.031 Seite 58). Wo immer in der Sprache sich die Macht der
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0224"n="220"/><lbn="pst_220.001"/>
Typus der Pflanze dar. Die «Urpflanze» gibt es in Wirklichkeit <lbn="pst_220.002"/>
nicht, so wenig es ein rein lyrisches, rein episches <lbn="pst_220.003"/>
oder rein dramatisches Werk gibt. Doch bei der Pflanze <lbn="pst_220.004"/>
bedeutet das nur, daß jede einzelne bestimmt und durch <lbn="pst_220.005"/>
tausend Zufälligkeiten bedingt ist. Auch in solcher Bedingtheit <lbn="pst_220.006"/>
aber bleibt die Pflanze nichts als Pflanze. Die <lbn="pst_220.007"/>
rote Farbe, die zackigen Blätter, die für den Typus indifferent <lbn="pst_220.008"/>
sind, nähern sie nicht der Tierwelt oder dem <lbn="pst_220.009"/>
Reich des Anorganischen an, sondern zeigen den Typus <lbn="pst_220.010"/>
individualisiert. Ein lyrisches Gedicht dagegen kann, <lbn="pst_220.011"/>
gerade weil es ein Gedicht ist, nicht bloß lyrisch sein. Es <lbn="pst_220.012"/>
nimmt in verschiedenen Graden und Arten an allen <lbn="pst_220.013"/>
Gattungsideen teil, und nur ein <hirendition="#g">Vorrang</hi> des Lyrischen <lbn="pst_220.014"/>
bestimmt uns, die Verse lyrisch zu nennen.</p><lbn="pst_220.015"/><p> Diesen Sachverhalt, auf den des öftern hingewiesen <lbn="pst_220.016"/>
wurde, müssen wir endlich genauer erkennen. Dann <lbn="pst_220.017"/>
erst kann sich zeigen, was die Gattungsideen eigentlich <lbn="pst_220.018"/>
sind, und worin die alte Dreiteilung gründet.</p><lbn="pst_220.019"/><p> Es ist keine bloße Analogie, wenn wir, um das Verhältnis <lbn="pst_220.020"/>
von lyrisch-episch-dramatisch zu erklären, an das <lbn="pst_220.021"/>
Verhältnis von Silbe, Wort und Satz erinnern. Die Silbe <lbn="pst_220.022"/>
darf als das eigentlich lyrische Element der Sprache gelten. <lbn="pst_220.023"/>
Sie bedeutet nichts, sie verlautet nur und ist so <lbn="pst_220.024"/>
zwar des Ausdrucks, aber nicht der festen Bezeichnung <lbn="pst_220.025"/>
fähig. Auf Silbenfolgen wie eia popeia, ach, <foreignxml:lang="grc">ἐλελεῦ</foreign>, <lbn="pst_220.026"/><foreignxml:lang="grc">αἴλινον</foreign>, om, sind wir als auf letzte musikalische Sprachphänomene <lbn="pst_220.027"/>
gestoßen. Sie stellen keinen Gegenstand <lbn="pst_220.028"/>
fest. Sie entbehren der Intentionalität. Wohl aber sind <lbn="pst_220.029"/>
sie unmittelbar verständlich als «Schreie der Empfindung», <lbn="pst_220.030"/>
wie Herder sie beschrieben hat (vergleiche <lbn="pst_220.031"/>
Seite 58). Wo immer in der Sprache sich die Macht der
</p></div></body></text></TEI>
[220/0224]
pst_220.001
Typus der Pflanze dar. Die «Urpflanze» gibt es in Wirklichkeit pst_220.002
nicht, so wenig es ein rein lyrisches, rein episches pst_220.003
oder rein dramatisches Werk gibt. Doch bei der Pflanze pst_220.004
bedeutet das nur, daß jede einzelne bestimmt und durch pst_220.005
tausend Zufälligkeiten bedingt ist. Auch in solcher Bedingtheit pst_220.006
aber bleibt die Pflanze nichts als Pflanze. Die pst_220.007
rote Farbe, die zackigen Blätter, die für den Typus indifferent pst_220.008
sind, nähern sie nicht der Tierwelt oder dem pst_220.009
Reich des Anorganischen an, sondern zeigen den Typus pst_220.010
individualisiert. Ein lyrisches Gedicht dagegen kann, pst_220.011
gerade weil es ein Gedicht ist, nicht bloß lyrisch sein. Es pst_220.012
nimmt in verschiedenen Graden und Arten an allen pst_220.013
Gattungsideen teil, und nur ein Vorrang des Lyrischen pst_220.014
bestimmt uns, die Verse lyrisch zu nennen.
pst_220.015
Diesen Sachverhalt, auf den des öftern hingewiesen pst_220.016
wurde, müssen wir endlich genauer erkennen. Dann pst_220.017
erst kann sich zeigen, was die Gattungsideen eigentlich pst_220.018
sind, und worin die alte Dreiteilung gründet.
pst_220.019
Es ist keine bloße Analogie, wenn wir, um das Verhältnis pst_220.020
von lyrisch-episch-dramatisch zu erklären, an das pst_220.021
Verhältnis von Silbe, Wort und Satz erinnern. Die Silbe pst_220.022
darf als das eigentlich lyrische Element der Sprache gelten. pst_220.023
Sie bedeutet nichts, sie verlautet nur und ist so pst_220.024
zwar des Ausdrucks, aber nicht der festen Bezeichnung pst_220.025
fähig. Auf Silbenfolgen wie eia popeia, ach, ἐλελεῦ, pst_220.026
αἴλινον, om, sind wir als auf letzte musikalische Sprachphänomene pst_220.027
gestoßen. Sie stellen keinen Gegenstand pst_220.028
fest. Sie entbehren der Intentionalität. Wohl aber sind pst_220.029
sie unmittelbar verständlich als «Schreie der Empfindung», pst_220.030
wie Herder sie beschrieben hat (vergleiche pst_220.031
Seite 58). Wo immer in der Sprache sich die Macht der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/224>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.