pst_210.001 Mensch nicht lachen, weil er die Leiden sich vorstellen pst_210.002 kann, die dies Übel der Mißgestalt bereitet. Phallos, pst_210.003 Wanst und Hinterteil dagegen mögen noch so sehr pst_210.004 zu Anomalien gediehen sein, ihre Hypertrophie scheint pst_210.005 nur auf übermäßigen Lebensgenuß zu deuten. Ein pst_210.006 Mensch, der vorzüglich aus Wanst besteht, so leuchtet pst_210.007 uns ein, hat es leichter als wir und gibt ein höchst beachtliches pst_210.008 Beispiel. Ein sprachliches Versehen lenkt uns pst_210.009 gleichfalls vom Sinnzusammenhang ab. Es löst aber kein pst_210.010 Gelächter aus, sofern es nicht, wie der überdeutliche pst_210.011 Reim oder der überdeutliche Takt, zu etwas führt, was pst_210.012 sich selber genügt und dem unbesonnenen Dasein pst_210.013 schmeichelt.
pst_210.014
Die Theorie des Lächerlichen reizt und ermüdet die pst_210.015 Ästhetik seit alters. Skeptiker gefallen sich darin, auf die pst_210.016 Unvereinbarkeit der Erklärungsversuche hinzuweisen. pst_210.017 Genau besehen ist es damit aber gar nicht so schlimm pst_210.018 bestellt. Jeder vermag doch mindestens seine eigenen pst_210.019 Beispiele zu erklären und trägt damit etwas zur Deutung pst_210.020 des Gesamtphänomens des Lächerlichen bei. Das fast pst_210.021 unübersehbare Schrifttum zu prüfen, ist hier, wo es um pst_210.022 die Beziehung zum dramatischen Stil geht, nicht der pst_210.023 Ort. Nur durch wenige Hinweise sei die allzu knappe pst_210.024 These erläutert.
pst_210.025
Kant in der "Kritik der Urteilskraft" sagt:
pst_210.026
"Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung pst_210.027 einer gespannten Erwartung in nichts1."
pst_210.028
Was Kant "Erwartung" nennt, entspricht dem a priori pst_210.029 der "Welt", des Entwurfs, dem, worin sich der
1pst_210.030 Inselausgabe, Leipzig 1924, Bd. VI, S. 213.
pst_210.001 Mensch nicht lachen, weil er die Leiden sich vorstellen pst_210.002 kann, die dies Übel der Mißgestalt bereitet. Phallos, pst_210.003 Wanst und Hinterteil dagegen mögen noch so sehr pst_210.004 zu Anomalien gediehen sein, ihre Hypertrophie scheint pst_210.005 nur auf übermäßigen Lebensgenuß zu deuten. Ein pst_210.006 Mensch, der vorzüglich aus Wanst besteht, so leuchtet pst_210.007 uns ein, hat es leichter als wir und gibt ein höchst beachtliches pst_210.008 Beispiel. Ein sprachliches Versehen lenkt uns pst_210.009 gleichfalls vom Sinnzusammenhang ab. Es löst aber kein pst_210.010 Gelächter aus, sofern es nicht, wie der überdeutliche pst_210.011 Reim oder der überdeutliche Takt, zu etwas führt, was pst_210.012 sich selber genügt und dem unbesonnenen Dasein pst_210.013 schmeichelt.
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Die Theorie des Lächerlichen reizt und ermüdet die pst_210.015 Ästhetik seit alters. Skeptiker gefallen sich darin, auf die pst_210.016 Unvereinbarkeit der Erklärungsversuche hinzuweisen. pst_210.017 Genau besehen ist es damit aber gar nicht so schlimm pst_210.018 bestellt. Jeder vermag doch mindestens seine eigenen pst_210.019 Beispiele zu erklären und trägt damit etwas zur Deutung pst_210.020 des Gesamtphänomens des Lächerlichen bei. Das fast pst_210.021 unübersehbare Schrifttum zu prüfen, ist hier, wo es um pst_210.022 die Beziehung zum dramatischen Stil geht, nicht der pst_210.023 Ort. Nur durch wenige Hinweise sei die allzu knappe pst_210.024 These erläutert.
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Kant in der «Kritik der Urteilskraft» sagt:
pst_210.026
«Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung pst_210.027 einer gespannten Erwartung in nichts1.»
pst_210.028
Was Kant «Erwartung» nennt, entspricht dem a priori pst_210.029 der «Welt», des Entwurfs, dem, worin sich der
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Mensch, der vorzüglich aus Wanst besteht, so leuchtet pst_210.007
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gleichfalls vom Sinnzusammenhang ab. Es löst aber kein pst_210.010
Gelächter aus, sofern es nicht, wie der überdeutliche pst_210.011
Reim oder der überdeutliche Takt, zu etwas führt, was pst_210.012
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schmeichelt.
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Die Theorie des Lächerlichen reizt und ermüdet die pst_210.015
Ästhetik seit alters. Skeptiker gefallen sich darin, auf die pst_210.016
Unvereinbarkeit der Erklärungsversuche hinzuweisen. pst_210.017
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Beispiele zu erklären und trägt damit etwas zur Deutung pst_210.020
des Gesamtphänomens des Lächerlichen bei. Das fast pst_210.021
unübersehbare Schrifttum zu prüfen, ist hier, wo es um pst_210.022
die Beziehung zum dramatischen Stil geht, nicht der pst_210.023
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These erläutert.
pst_210.025
Kant in der «Kritik der Urteilskraft» sagt:
pst_210.026
«Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung pst_210.027
einer gespannten Erwartung in nichts 1.»
pst_210.028
Was Kant «Erwartung» nennt, entspricht dem a priori pst_210.029
der «Welt», des Entwurfs, dem, worin sich der
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Inselausgabe, Leipzig 1924, Bd. VI, S. 213.
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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/214>, abgerufen am 16.02.2025.
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