Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite
pst_198.001

"Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken; ich pst_198.002
habe nun keines mehr"1.

pst_198.003

Die "Familie Schroffenstein" offenbart die Unzugänglichkeit pst_198.004
der Wahrheit, die Gott, ein rätselhafter pst_198.005
Gott, ein deus absconditus, verfügt hat.

pst_198.006

Doch schon in diesem ersten Drama erschließt sich pst_198.007
eine höhere Welt, die des "Gefühls", wie Kleist sich pst_198.008
ausdrückt, der Liebe, für die das Glück nicht im ruhigen pst_198.009
Selbstbesitz der Tugend und nicht in diskursiver Erkenntnis pst_198.010
besteht, sondern in der Vereinigung mit Geliebtem. pst_198.011
Auch dieses Ideal jedoch zerstört der Dichter pst_198.012
durch eiserne Konsequenz. Die Vereinigung soll vollkommen pst_198.013
sein. Das "Ich in dir und du in mir", von dem pst_198.014
die Liebeslieder singen, soll vom gesamten Menschen pst_198.015
gelten. Kuß und Umarmung können sich mit der Berührung pst_198.016
des Körpers nicht begnügen. Penthesilea pst_198.017
stürzt sich auf Achill und zerfleischt ihn in liebender Bemühung, pst_198.018
das unerträgliche Gegenüber zu tilgen. In der pst_198.019
"gebrechlichen Einrichtung der Welt" hat sich die Leidenschaft pst_198.020
selber ad absurdum geführt und bewiesen, pst_198.021
daß Liebesglück unmöglich ist. Wäre sie milder gewesen, pst_198.022
sie hätte sich mit dem möglichen Glück begnügt.

pst_198.023
pst_198.024

Wir nennen solche Ereignisse wie das Scheitern der pst_198.025
Wahrheit in der "Familie Schroffenstein", das Scheitern pst_198.026
der Liebe in der "Penthesilea" tragisch. Das Tragische pst_198.027
ereignet sich, wenn das, worum es in einem letzten pst_198.028
allumfassenden Sinne geht, worauf ein menschliches pst_198.029
Dasein ankommt, zerbricht. Im Tragischen, anders

1 pst_198.030
An Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801.
pst_198.001

  «Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken; ich pst_198.002
habe nun keines mehr»1.

pst_198.003

  Die «Familie Schroffenstein» offenbart die Unzugänglichkeit pst_198.004
der Wahrheit, die Gott, ein rätselhafter pst_198.005
Gott, ein deus absconditus, verfügt hat.

pst_198.006

  Doch schon in diesem ersten Drama erschließt sich pst_198.007
eine höhere Welt, die des «Gefühls», wie Kleist sich pst_198.008
ausdrückt, der Liebe, für die das Glück nicht im ruhigen pst_198.009
Selbstbesitz der Tugend und nicht in diskursiver Erkenntnis pst_198.010
besteht, sondern in der Vereinigung mit Geliebtem. pst_198.011
Auch dieses Ideal jedoch zerstört der Dichter pst_198.012
durch eiserne Konsequenz. Die Vereinigung soll vollkommen pst_198.013
sein. Das «Ich in dir und du in mir», von dem pst_198.014
die Liebeslieder singen, soll vom gesamten Menschen pst_198.015
gelten. Kuß und Umarmung können sich mit der Berührung pst_198.016
des Körpers nicht begnügen. Penthesilea pst_198.017
stürzt sich auf Achill und zerfleischt ihn in liebender Bemühung, pst_198.018
das unerträgliche Gegenüber zu tilgen. In der pst_198.019
«gebrechlichen Einrichtung der Welt» hat sich die Leidenschaft pst_198.020
selber ad absurdum geführt und bewiesen, pst_198.021
daß Liebesglück unmöglich ist. Wäre sie milder gewesen, pst_198.022
sie hätte sich mit dem möglichen Glück begnügt.

pst_198.023
pst_198.024

  Wir nennen solche Ereignisse wie das Scheitern der pst_198.025
Wahrheit in der «Familie Schroffenstein», das Scheitern pst_198.026
der Liebe in der «Penthesilea» tragisch. Das Tragische pst_198.027
ereignet sich, wenn das, worum es in einem letzten pst_198.028
allumfassenden Sinne geht, worauf ein menschliches pst_198.029
Dasein ankommt, zerbricht. Im Tragischen, anders

1 pst_198.030
An Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0202" n="198"/>
          <lb n="pst_198.001"/>
          <p>  «Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken; ich <lb n="pst_198.002"/>
habe nun keines mehr»<note xml:id="PST_198_1" place="foot" n="1"><lb n="pst_198.030"/>
An Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801.</note>.</p>
          <lb n="pst_198.003"/>
          <p>  Die «Familie Schroffenstein» offenbart die Unzugänglichkeit <lb n="pst_198.004"/>
der Wahrheit, die Gott, ein rätselhafter <lb n="pst_198.005"/>
Gott, ein deus absconditus, verfügt hat.</p>
          <lb n="pst_198.006"/>
          <p>  Doch schon in diesem ersten Drama erschließt sich <lb n="pst_198.007"/>
eine höhere Welt, die des «Gefühls», wie Kleist sich <lb n="pst_198.008"/>
ausdrückt, der Liebe, für die das Glück nicht im ruhigen <lb n="pst_198.009"/>
Selbstbesitz der Tugend und nicht in diskursiver Erkenntnis <lb n="pst_198.010"/>
besteht, sondern in der Vereinigung mit Geliebtem. <lb n="pst_198.011"/>
Auch dieses Ideal jedoch zerstört der Dichter <lb n="pst_198.012"/>
durch eiserne Konsequenz. Die Vereinigung soll vollkommen <lb n="pst_198.013"/>
sein. Das «Ich in dir und du in mir», von dem <lb n="pst_198.014"/>
die Liebeslieder singen, soll vom gesamten Menschen <lb n="pst_198.015"/>
gelten. Kuß und Umarmung können sich mit der Berührung <lb n="pst_198.016"/>
des Körpers nicht begnügen. Penthesilea <lb n="pst_198.017"/>
stürzt sich auf Achill und zerfleischt ihn in liebender Bemühung, <lb n="pst_198.018"/>
das unerträgliche Gegenüber zu tilgen. In der <lb n="pst_198.019"/>
«gebrechlichen Einrichtung der Welt» hat sich die Leidenschaft <lb n="pst_198.020"/>
selber ad absurdum geführt und bewiesen, <lb n="pst_198.021"/>
daß Liebesglück unmöglich ist. Wäre sie milder gewesen, <lb n="pst_198.022"/>
sie hätte sich mit dem möglichen Glück begnügt.</p>
          <lb n="pst_198.023"/>
          <lb n="pst_198.024"/>
          <p>  Wir nennen solche Ereignisse wie das Scheitern der <lb n="pst_198.025"/>
Wahrheit in der «Familie Schroffenstein», das Scheitern <lb n="pst_198.026"/>
der Liebe in der «Penthesilea» tragisch. Das Tragische <lb n="pst_198.027"/>
ereignet sich, wenn das, worum es in einem letzten <lb n="pst_198.028"/>
allumfassenden Sinne geht, worauf ein menschliches <lb n="pst_198.029"/>
Dasein ankommt, zerbricht. Im Tragischen, anders
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[198/0202] pst_198.001   «Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken; ich pst_198.002 habe nun keines mehr» 1. pst_198.003   Die «Familie Schroffenstein» offenbart die Unzugänglichkeit pst_198.004 der Wahrheit, die Gott, ein rätselhafter pst_198.005 Gott, ein deus absconditus, verfügt hat. pst_198.006   Doch schon in diesem ersten Drama erschließt sich pst_198.007 eine höhere Welt, die des «Gefühls», wie Kleist sich pst_198.008 ausdrückt, der Liebe, für die das Glück nicht im ruhigen pst_198.009 Selbstbesitz der Tugend und nicht in diskursiver Erkenntnis pst_198.010 besteht, sondern in der Vereinigung mit Geliebtem. pst_198.011 Auch dieses Ideal jedoch zerstört der Dichter pst_198.012 durch eiserne Konsequenz. Die Vereinigung soll vollkommen pst_198.013 sein. Das «Ich in dir und du in mir», von dem pst_198.014 die Liebeslieder singen, soll vom gesamten Menschen pst_198.015 gelten. Kuß und Umarmung können sich mit der Berührung pst_198.016 des Körpers nicht begnügen. Penthesilea pst_198.017 stürzt sich auf Achill und zerfleischt ihn in liebender Bemühung, pst_198.018 das unerträgliche Gegenüber zu tilgen. In der pst_198.019 «gebrechlichen Einrichtung der Welt» hat sich die Leidenschaft pst_198.020 selber ad absurdum geführt und bewiesen, pst_198.021 daß Liebesglück unmöglich ist. Wäre sie milder gewesen, pst_198.022 sie hätte sich mit dem möglichen Glück begnügt. pst_198.023 pst_198.024   Wir nennen solche Ereignisse wie das Scheitern der pst_198.025 Wahrheit in der «Familie Schroffenstein», das Scheitern pst_198.026 der Liebe in der «Penthesilea» tragisch. Das Tragische pst_198.027 ereignet sich, wenn das, worum es in einem letzten pst_198.028 allumfassenden Sinne geht, worauf ein menschliches pst_198.029 Dasein ankommt, zerbricht. Im Tragischen, anders 1 pst_198.030 An Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/202
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/202>, abgerufen am 22.11.2024.