Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_016.001 Im lyrischen Stil dagegen wird nicht ein Vorgang pst_016.006 Der Wert von lyrischen Versen als solchen besteht in pst_016.022 pst_016.001 Im lyrischen Stil dagegen wird nicht ein Vorgang pst_016.006 Der Wert von lyrischen Versen als solchen besteht in pst_016.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0020" n="16"/><lb n="pst_016.001"/> voraussetzt oder doch immerhin für möglich hält, <lb n="pst_016.002"/> und weil der Nachweis nur die Freude des Dichters an <lb n="pst_016.003"/> dem, was ihm so hübsch gelungen ist, zu bestätigen <lb n="pst_016.004"/> scheint.</p> <lb n="pst_016.005"/> <p> Im lyrischen Stil dagegen wird nicht ein Vorgang <lb n="pst_016.006"/> sprachlich «wieder»-gegeben. Es ist nicht so, daß in <lb n="pst_016.007"/> «Wanderers Nachtlied» hier die Abendstimmung wäre, <lb n="pst_016.008"/> und dort die Sprache mit ihren Lauten zur Verfügung <lb n="pst_016.009"/> stünde und auf den Gegenstand angewandt würde. Sondern <lb n="pst_016.010"/> der Abend erklingt als Sprache, von selber; der <lb n="pst_016.011"/> Dichter «leistet» nichts. Es gibt hier noch kein Gegenüber. <lb n="pst_016.012"/> Die Sprache geht in der Abendstimmung auf, <lb n="pst_016.013"/> der Abend in der Sprache. Deshalb muß der Nachweis <lb n="pst_016.014"/> einzelner lautlicher Bezüge verstimmen. Die Deutung <lb n="pst_016.015"/> nimmt auseinander, was im Ursprung unbegreiflich <lb n="pst_016.016"/> eins ist. Auch kann sie das Rätsel nie ganz entschleiern. <lb n="pst_016.017"/> Denn das Einssein ist inniger, als der schärfste Spürsinn <lb n="pst_016.018"/> es je bemerkt, so wie ein Antlitz sprechender ist <lb n="pst_016.019"/> als jeder physiognomische Nachweis, eine Seele tiefer <lb n="pst_016.020"/> als jeder Erklärungsversuch der Psychologie.</p> <lb n="pst_016.021"/> <p> Der Wert von lyrischen Versen als solchen besteht in <lb n="pst_016.022"/> dieser Einheit der Bedeutung der Worte und ihrer Musik. <lb n="pst_016.023"/> Es ist eine unmittelbare Musik, während die Lautmalerei <lb n="pst_016.024"/> – mutatis mutandis und ohne Werturteil – der <lb n="pst_016.025"/> Programmusik zu vergleichen wäre. Nichts kann heikler <lb n="pst_016.026"/> sein als ein solches unmittelbares Verlauten von Stimmung. <lb n="pst_016.027"/> Daher ist jedes Wort, ja jede Silbe in einem lyrischen <lb n="pst_016.028"/> Gedicht ganz unentbehrlich und unersetzlich. <lb n="pst_016.029"/> Wen es nicht ekelt, der setze in «Wanderers Nachtlied» <lb n="pst_016.030"/> statt «spürest» «merkest» ein; er streiche nur das «e» <lb n="pst_016.031"/> in «Vögelein» und frage sich, ob die Zeile damit nicht </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [16/0020]
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voraussetzt oder doch immerhin für möglich hält, pst_016.002
und weil der Nachweis nur die Freude des Dichters an pst_016.003
dem, was ihm so hübsch gelungen ist, zu bestätigen pst_016.004
scheint.
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Im lyrischen Stil dagegen wird nicht ein Vorgang pst_016.006
sprachlich «wieder»-gegeben. Es ist nicht so, daß in pst_016.007
«Wanderers Nachtlied» hier die Abendstimmung wäre, pst_016.008
und dort die Sprache mit ihren Lauten zur Verfügung pst_016.009
stünde und auf den Gegenstand angewandt würde. Sondern pst_016.010
der Abend erklingt als Sprache, von selber; der pst_016.011
Dichter «leistet» nichts. Es gibt hier noch kein Gegenüber. pst_016.012
Die Sprache geht in der Abendstimmung auf, pst_016.013
der Abend in der Sprache. Deshalb muß der Nachweis pst_016.014
einzelner lautlicher Bezüge verstimmen. Die Deutung pst_016.015
nimmt auseinander, was im Ursprung unbegreiflich pst_016.016
eins ist. Auch kann sie das Rätsel nie ganz entschleiern. pst_016.017
Denn das Einssein ist inniger, als der schärfste Spürsinn pst_016.018
es je bemerkt, so wie ein Antlitz sprechender ist pst_016.019
als jeder physiognomische Nachweis, eine Seele tiefer pst_016.020
als jeder Erklärungsversuch der Psychologie.
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Der Wert von lyrischen Versen als solchen besteht in pst_016.022
dieser Einheit der Bedeutung der Worte und ihrer Musik. pst_016.023
Es ist eine unmittelbare Musik, während die Lautmalerei pst_016.024
– mutatis mutandis und ohne Werturteil – der pst_016.025
Programmusik zu vergleichen wäre. Nichts kann heikler pst_016.026
sein als ein solches unmittelbares Verlauten von Stimmung. pst_016.027
Daher ist jedes Wort, ja jede Silbe in einem lyrischen pst_016.028
Gedicht ganz unentbehrlich und unersetzlich. pst_016.029
Wen es nicht ekelt, der setze in «Wanderers Nachtlied» pst_016.030
statt «spürest» «merkest» ein; er streiche nur das «e» pst_016.031
in «Vögelein» und frage sich, ob die Zeile damit nicht
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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