Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_183.001 Das Ganze und der letzte Sinn des Geschehens enthüllen pst_183.015 pst_183.001 Das Ganze und der letzte Sinn des Geschehens enthüllen pst_183.015 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0187" n="183"/><lb n="pst_183.001"/> ermutigt durch das antike Beispiel, wo öfter <lb n="pst_183.002"/> der Chor in der Exodos das erlittene Schicksal den ewigen <lb n="pst_183.003"/> Gesetzen des Daseins einfügt. Im allgemeinen wird <lb n="pst_183.004"/> der Dichter jedoch nicht so ausdrücklich verfahren und <lb n="pst_183.005"/> sich lieber mit einer möglichst umfassenden Gebärde <lb n="pst_183.006"/> begnügen, von der das Lebendige nicht, wie von einer <lb n="pst_183.007"/> Sentenz, erdrosselt zu werden Gefahr läuft: so Hebbel <lb n="pst_183.008"/> in den «Nibelungen», wo Dietrich dem Hunnenkönig <lb n="pst_183.009"/> die Kronen abnimmt und im Namen des Heilands über <lb n="pst_183.010"/> die Menschheit zu herrschen verspricht – Verheißung, <lb n="pst_183.011"/> daß die heidnische Welt, auf der die Trilogie, das Denken <lb n="pst_183.012"/> und Wollen der Helden beruht, zu Ende ist und die <lb n="pst_183.013"/> christliche Welt aufgeht.</p> <lb n="pst_183.014"/> <p> Das Ganze und der letzte Sinn des Geschehens enthüllen <lb n="pst_183.015"/> sich erst am Schluß. Wenn der Zuschauer nicht <lb n="pst_183.016"/> bis zuletzt im Ungewissen bleiben, wenn er sich irgendwie <lb n="pst_183.017"/> zurechtfinden soll, so muß ihn der Dichter behutsam <lb n="pst_183.018"/> führen. Er kann ihm gleich von vornherein sagen, <lb n="pst_183.019"/> wo es hinaus will. Der Prolog des Euripides leistet oft <lb n="pst_183.020"/> diesen Dienst. Lessing hat dieses Verfahren gerühmt <lb n="pst_183.021"/> und darauf hingewiesen, daß nur der Stümper meine, <lb n="pst_183.022"/> das Unerwartete habe im Drama die größte Wirkung. <lb n="pst_183.023"/> Dennoch dürfte ein Vorbericht aus dem Munde eines <lb n="pst_183.024"/> allwissenden Gottes nicht eben die beste Lösung der <lb n="pst_183.025"/> freilich schwer zu lösenden Aufgabe sein. Es handelt <lb n="pst_183.026"/> sich ja nicht darum, im voraus den ganzen Weg zu verraten, <lb n="pst_183.027"/> sondern um eine Orientierung, um einen Wegweiser, <lb n="pst_183.028"/> der uns angibt, ob wir uns rechts oder links <lb n="pst_183.029"/> halten sollen. Man pflegt zu sagen: Große Ereignisse <lb n="pst_183.030"/> werfen ihren Schatten voraus. Solche vorausgeworfene <lb n="pst_183.031"/> Schatten will der Dichter nach Möglichkeit zeigen, in </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [183/0187]
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ermutigt durch das antike Beispiel, wo öfter pst_183.002
der Chor in der Exodos das erlittene Schicksal den ewigen pst_183.003
Gesetzen des Daseins einfügt. Im allgemeinen wird pst_183.004
der Dichter jedoch nicht so ausdrücklich verfahren und pst_183.005
sich lieber mit einer möglichst umfassenden Gebärde pst_183.006
begnügen, von der das Lebendige nicht, wie von einer pst_183.007
Sentenz, erdrosselt zu werden Gefahr läuft: so Hebbel pst_183.008
in den «Nibelungen», wo Dietrich dem Hunnenkönig pst_183.009
die Kronen abnimmt und im Namen des Heilands über pst_183.010
die Menschheit zu herrschen verspricht – Verheißung, pst_183.011
daß die heidnische Welt, auf der die Trilogie, das Denken pst_183.012
und Wollen der Helden beruht, zu Ende ist und die pst_183.013
christliche Welt aufgeht.
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Das Ganze und der letzte Sinn des Geschehens enthüllen pst_183.015
sich erst am Schluß. Wenn der Zuschauer nicht pst_183.016
bis zuletzt im Ungewissen bleiben, wenn er sich irgendwie pst_183.017
zurechtfinden soll, so muß ihn der Dichter behutsam pst_183.018
führen. Er kann ihm gleich von vornherein sagen, pst_183.019
wo es hinaus will. Der Prolog des Euripides leistet oft pst_183.020
diesen Dienst. Lessing hat dieses Verfahren gerühmt pst_183.021
und darauf hingewiesen, daß nur der Stümper meine, pst_183.022
das Unerwartete habe im Drama die größte Wirkung. pst_183.023
Dennoch dürfte ein Vorbericht aus dem Munde eines pst_183.024
allwissenden Gottes nicht eben die beste Lösung der pst_183.025
freilich schwer zu lösenden Aufgabe sein. Es handelt pst_183.026
sich ja nicht darum, im voraus den ganzen Weg zu verraten, pst_183.027
sondern um eine Orientierung, um einen Wegweiser, pst_183.028
der uns angibt, ob wir uns rechts oder links pst_183.029
halten sollen. Man pflegt zu sagen: Große Ereignisse pst_183.030
werfen ihren Schatten voraus. Solche vorausgeworfene pst_183.031
Schatten will der Dichter nach Möglichkeit zeigen, in
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(2015-09-30T09:54:39Z)
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