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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Heimat also, die Stauffacher, nicht den Tod des Sohns, pst_163.002
der Julia im "Papinian" bedrängt. Aus solchen Leiden pst_163.003
braucht an sich kein Pathos zu entstehen. Sie könnten pst_163.004
den Menschen auch wehmütig stimmen. Außerdem pst_163.005
gibt es ja nicht nur schmerzliches, sondern auch freudiges pst_163.006
Pathos, wie das Fieskos, der trunken auf Genua pst_163.007
blickt, Elektras, die ihre Rache vollzieht. Jene Gewalt, pst_163.008
die Stauffacher als pathetischer Redner erleidet und die pst_163.009
sich auf die Versammlung überträgt, ist die Freiheit. pst_163.010
Jene Gewalt, die Julia erleidet, ist die Gerechtigkeit. pst_163.011
Und die Gewalt, die Fiesko zu seiner pathetischen Rede pst_163.012
drängt, ist die Macht.

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Es könnte jedoch befremden, daß Begriffe in diesem pst_163.014
höchst konkreten Sinn als Gewalten bezeichnet werden. pst_163.015
Liebe, Machtgier - das ginge noch an. Aber Freiheit, pst_163.016
Recht und Wahrheit? Da liegt es uns näher, zu meinen, pst_163.017
das seien Gedanken, die der Mensch besonnen faßt und pst_163.018
die er dann allerdings "mit" Leidenschaft vertreten pst_163.019
kann. Wir denken uns die Gewalt als etwas, das zum pst_163.020
Gedanken aus dem Bereich des menschlichen Willens pst_163.021
dazukommen muß. Doch einen solchen Willen als Vermögen, pst_163.022
das zunächst kein Ziel hat und dann verfügbar pst_163.023
wird, gibt es nicht. Der Wille ist selber die Gewalt dessen, pst_163.024
was wirklich werden soll. Nur darum vermag er pst_163.025
auch wirksam zu sein, noch ehe das Ziel begriffen ist. pst_163.026
Vielleicht ist am Anfang nur Eines klar: Das Bestehende pst_163.027
soll nicht sein! Statt dessen soll ein anderes sein! Was? pst_163.028
das bleibt noch ungewiß. Erst später wird das Ziel erkannt pst_163.029
und gegen das wirkliche Leben ein klar umrissenes pst_163.030
Ideal gesetzt.

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Das Pathos kann sich also zwar an einem großen Begriff

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Heimat also, die Stauffacher, nicht den Tod des Sohns, pst_163.002
der Julia im «Papinian» bedrängt. Aus solchen Leiden pst_163.003
braucht an sich kein Pathos zu entstehen. Sie könnten pst_163.004
den Menschen auch wehmütig stimmen. Außerdem pst_163.005
gibt es ja nicht nur schmerzliches, sondern auch freudiges pst_163.006
Pathos, wie das Fieskos, der trunken auf Genua pst_163.007
blickt, Elektras, die ihre Rache vollzieht. Jene Gewalt, pst_163.008
die Stauffacher als pathetischer Redner erleidet und die pst_163.009
sich auf die Versammlung überträgt, ist die Freiheit. pst_163.010
Jene Gewalt, die Julia erleidet, ist die Gerechtigkeit. pst_163.011
Und die Gewalt, die Fiesko zu seiner pathetischen Rede pst_163.012
drängt, ist die Macht.

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  Es könnte jedoch befremden, daß Begriffe in diesem pst_163.014
höchst konkreten Sinn als Gewalten bezeichnet werden. pst_163.015
Liebe, Machtgier – das ginge noch an. Aber Freiheit, pst_163.016
Recht und Wahrheit? Da liegt es uns näher, zu meinen, pst_163.017
das seien Gedanken, die der Mensch besonnen faßt und pst_163.018
die er dann allerdings «mit» Leidenschaft vertreten pst_163.019
kann. Wir denken uns die Gewalt als etwas, das zum pst_163.020
Gedanken aus dem Bereich des menschlichen Willens pst_163.021
dazukommen muß. Doch einen solchen Willen als Vermögen, pst_163.022
das zunächst kein Ziel hat und dann verfügbar pst_163.023
wird, gibt es nicht. Der Wille ist selber die Gewalt dessen, pst_163.024
was wirklich werden soll. Nur darum vermag er pst_163.025
auch wirksam zu sein, noch ehe das Ziel begriffen ist. pst_163.026
Vielleicht ist am Anfang nur Eines klar: Das Bestehende pst_163.027
soll nicht sein! Statt dessen soll ein anderes sein! Was? pst_163.028
das bleibt noch ungewiß. Erst später wird das Ziel erkannt pst_163.029
und gegen das wirkliche Leben ein klar umrissenes pst_163.030
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  Das Pathos kann sich also zwar an einem großen Begriff

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[163/0167] pst_163.001 Heimat also, die Stauffacher, nicht den Tod des Sohns, pst_163.002 der Julia im «Papinian» bedrängt. Aus solchen Leiden pst_163.003 braucht an sich kein Pathos zu entstehen. Sie könnten pst_163.004 den Menschen auch wehmütig stimmen. Außerdem pst_163.005 gibt es ja nicht nur schmerzliches, sondern auch freudiges pst_163.006 Pathos, wie das Fieskos, der trunken auf Genua pst_163.007 blickt, Elektras, die ihre Rache vollzieht. Jene Gewalt, pst_163.008 die Stauffacher als pathetischer Redner erleidet und die pst_163.009 sich auf die Versammlung überträgt, ist die Freiheit. pst_163.010 Jene Gewalt, die Julia erleidet, ist die Gerechtigkeit. pst_163.011 Und die Gewalt, die Fiesko zu seiner pathetischen Rede pst_163.012 drängt, ist die Macht. pst_163.013   Es könnte jedoch befremden, daß Begriffe in diesem pst_163.014 höchst konkreten Sinn als Gewalten bezeichnet werden. pst_163.015 Liebe, Machtgier – das ginge noch an. Aber Freiheit, pst_163.016 Recht und Wahrheit? Da liegt es uns näher, zu meinen, pst_163.017 das seien Gedanken, die der Mensch besonnen faßt und pst_163.018 die er dann allerdings «mit» Leidenschaft vertreten pst_163.019 kann. Wir denken uns die Gewalt als etwas, das zum pst_163.020 Gedanken aus dem Bereich des menschlichen Willens pst_163.021 dazukommen muß. Doch einen solchen Willen als Vermögen, pst_163.022 das zunächst kein Ziel hat und dann verfügbar pst_163.023 wird, gibt es nicht. Der Wille ist selber die Gewalt dessen, pst_163.024 was wirklich werden soll. Nur darum vermag er pst_163.025 auch wirksam zu sein, noch ehe das Ziel begriffen ist. pst_163.026 Vielleicht ist am Anfang nur Eines klar: Das Bestehende pst_163.027 soll nicht sein! Statt dessen soll ein anderes sein! Was? pst_163.028 das bleibt noch ungewiß. Erst später wird das Ziel erkannt pst_163.029 und gegen das wirkliche Leben ein klar umrissenes pst_163.030 Ideal gesetzt. pst_163.031   Das Pathos kann sich also zwar an einem großen Begriff

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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/167>, abgerufen am 24.11.2024.