Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.pst_150.001 pst_150.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0154" n="150"/><lb n="pst_150.001"/> nach unsern Begriffen, nur lyrische Qualitäten gemeint <lb n="pst_150.002"/> sein können – so sehen wir, wie dieses Epos eigentümlich <lb n="pst_150.003"/> zwischen den Gattungen steht, wie es – nicht nur <lb n="pst_150.004"/> in jenem allgemeinen Sinne, der für jedes Sprachkunstwerk <lb n="pst_150.005"/> als solches zutrifft – am Lyrischen sowohl wie am <lb n="pst_150.006"/> Epischen und Dramatischen Anteil hat. Dasselbe gilt <lb n="pst_150.007"/> nun aber auch von der «Achilleis», wo Goethe wieder <lb n="pst_150.008"/> eine zielstrebige Handlung wählt und wo die Liebe des <lb n="pst_150.009"/> Helden zu Polyxena eine so ausgeprägt lyrische Episode <lb n="pst_150.010"/> gebildet hätte, daß es kaum möglich gewesen wäre, ihr <lb n="pst_150.011"/> mit homerischen Versen und homerischer Technik gerecht <lb n="pst_150.012"/> zu werden. Dafür neigt die «Iphigenie auf Tauris», <lb n="pst_150.013"/> wie Schiller in demselben Brief bemerkt, zum Epischen. <lb n="pst_150.014"/> Und wenn wir erwägen, daß in den Gedichten, <lb n="pst_150.015"/> sogar in vielen Liedern Goethes, das Motiv, das Vorstellbare, <lb n="pst_150.016"/> eine bedeutende Rolle spielt, daß andrerseits <lb n="pst_150.017"/> selbst «Wanderers Nachtlied» und das Lied «An den <lb n="pst_150.018"/> Mond» von einem zusammenfassenden Schluß gekrönt <lb n="pst_150.019"/> werden, so geht uns auf, daß Goethes Wesen in ausgezeichneter <lb n="pst_150.020"/> Weise an allen drei Gattungsideen beteiligt <lb n="pst_150.021"/> ist. Dies aber bedeutet nichts anderes, als daß seine dichterische <lb n="pst_150.022"/> Kraft organisch bildet. Ein Organismus ist, <lb n="pst_150.023"/> nach der Deutung in Kants «Kritik der Urteilskraft», <lb n="pst_150.024"/> ein Gebilde, dessen Teile Selbstzweck zugleich und Mittel <lb n="pst_150.025"/> sind. Die Selbständigkeit der Teile entspricht dem <lb n="pst_150.026"/> Gattungsgesetz des Epischen, die Funktionalität der <lb n="pst_150.027"/> Teile dem Gattungsgesetz des Dramatischen, die individuelle <lb n="pst_150.028"/> Modifikation des organischen Typus dem Lyrischen, <lb n="pst_150.029"/> das immer zufällig und individuell ist. Es wäre <lb n="pst_150.030"/> gut, den Begriff des Organischen künftig wieder in <lb n="pst_150.031"/> diesem unzweideutigen Sinne zu gebrauchen und ihn </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [150/0154]
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nach unsern Begriffen, nur lyrische Qualitäten gemeint pst_150.002
sein können – so sehen wir, wie dieses Epos eigentümlich pst_150.003
zwischen den Gattungen steht, wie es – nicht nur pst_150.004
in jenem allgemeinen Sinne, der für jedes Sprachkunstwerk pst_150.005
als solches zutrifft – am Lyrischen sowohl wie am pst_150.006
Epischen und Dramatischen Anteil hat. Dasselbe gilt pst_150.007
nun aber auch von der «Achilleis», wo Goethe wieder pst_150.008
eine zielstrebige Handlung wählt und wo die Liebe des pst_150.009
Helden zu Polyxena eine so ausgeprägt lyrische Episode pst_150.010
gebildet hätte, daß es kaum möglich gewesen wäre, ihr pst_150.011
mit homerischen Versen und homerischer Technik gerecht pst_150.012
zu werden. Dafür neigt die «Iphigenie auf Tauris», pst_150.013
wie Schiller in demselben Brief bemerkt, zum Epischen. pst_150.014
Und wenn wir erwägen, daß in den Gedichten, pst_150.015
sogar in vielen Liedern Goethes, das Motiv, das Vorstellbare, pst_150.016
eine bedeutende Rolle spielt, daß andrerseits pst_150.017
selbst «Wanderers Nachtlied» und das Lied «An den pst_150.018
Mond» von einem zusammenfassenden Schluß gekrönt pst_150.019
werden, so geht uns auf, daß Goethes Wesen in ausgezeichneter pst_150.020
Weise an allen drei Gattungsideen beteiligt pst_150.021
ist. Dies aber bedeutet nichts anderes, als daß seine dichterische pst_150.022
Kraft organisch bildet. Ein Organismus ist, pst_150.023
nach der Deutung in Kants «Kritik der Urteilskraft», pst_150.024
ein Gebilde, dessen Teile Selbstzweck zugleich und Mittel pst_150.025
sind. Die Selbständigkeit der Teile entspricht dem pst_150.026
Gattungsgesetz des Epischen, die Funktionalität der pst_150.027
Teile dem Gattungsgesetz des Dramatischen, die individuelle pst_150.028
Modifikation des organischen Typus dem Lyrischen, pst_150.029
das immer zufällig und individuell ist. Es wäre pst_150.030
gut, den Begriff des Organischen künftig wieder in pst_150.031
diesem unzweideutigen Sinne zu gebrauchen und ihn
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