Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_136.001
und der Ilias setzt zwar die Schrift voraus. Doch eben pst_136.002
weil sie noch nicht durchdringt, weil Einzelnes immer pst_136.003
wieder aus dem vorgezeichneten Rahmen herausfällt, pst_136.004
erkennen wir, daß die Schrift hier noch am Anfang ihrer pst_136.005
Wirksamkeit steht und daß die homerischen Epen pst_136.006
den Ursprung aus mündlicher Überlieferung nicht zu pst_136.007
verleugnen imstande sind. Das scherzhafte Wort vom pst_136.008
Schläfchen Homers - "quandoque bonus dormitat pst_136.009
Homerus" - darf hier wohl als antikes Zeugnis für die pst_136.010
Vergeßlichkeit des der Schrift noch Ungewohnten beigefügt pst_136.011
werden.

pst_136.012

Endlich ist zu sagen, daß erst die Schrift umfassende pst_136.013
geschichtliche Betrachtung des Menschenlebens ermöglicht. pst_136.014
Wer hat nicht schon verwundert frühere Tagebuchnotizen pst_136.015
gelesen? In dieser Verwunderung spüren pst_136.016
wir noch die neue Dimension der Erkenntnis, welche pst_136.017
die Schrift dem Menschen erschließt: So war ich früher, pst_136.018
so bin ich jetzt; wie werde ich in zehn Jahren sein? Nur pst_136.019
schriftliche Aufzeichnung kann uns zuverlässig solche pst_136.020
Einsicht vermitteln. Wo sie fehlt, bilden wir unsere pst_136.021
früheren Jahre unmerklich um und verwandeln die Vergangenheit pst_136.022
so, wie wir uns selbst verwandelt haben. pst_136.023
Dann sind wir gewesen, was wir jetzt sind, oder verstehen pst_136.024
das Frühere nicht mehr und hören von uns erzählen, pst_136.025
als ob es sich um einen Fremden handeln würde, pst_136.026
eigentümlich piquiert, daß dieser Fremde wir selbst gewesen pst_136.027
sein sollen.

pst_136.028

Homer weiß nichts von einer Entwicklung. Die späteren pst_136.029
Jahre des Menschen gehen bei ihm nicht aus den pst_136.030
früheren hervor; sie schließen sich einfach an. Und weil pst_136.031
er nicht vor- und nicht zurückdenkt, entgeht ihm das

pst_136.001
und der Ilias setzt zwar die Schrift voraus. Doch eben pst_136.002
weil sie noch nicht durchdringt, weil Einzelnes immer pst_136.003
wieder aus dem vorgezeichneten Rahmen herausfällt, pst_136.004
erkennen wir, daß die Schrift hier noch am Anfang ihrer pst_136.005
Wirksamkeit steht und daß die homerischen Epen pst_136.006
den Ursprung aus mündlicher Überlieferung nicht zu pst_136.007
verleugnen imstande sind. Das scherzhafte Wort vom pst_136.008
Schläfchen Homers – «quandoque bonus dormitat pst_136.009
Homerus» – darf hier wohl als antikes Zeugnis für die pst_136.010
Vergeßlichkeit des der Schrift noch Ungewohnten beigefügt pst_136.011
werden.

pst_136.012

  Endlich ist zu sagen, daß erst die Schrift umfassende pst_136.013
geschichtliche Betrachtung des Menschenlebens ermöglicht. pst_136.014
Wer hat nicht schon verwundert frühere Tagebuchnotizen pst_136.015
gelesen? In dieser Verwunderung spüren pst_136.016
wir noch die neue Dimension der Erkenntnis, welche pst_136.017
die Schrift dem Menschen erschließt: So war ich früher, pst_136.018
so bin ich jetzt; wie werde ich in zehn Jahren sein? Nur pst_136.019
schriftliche Aufzeichnung kann uns zuverlässig solche pst_136.020
Einsicht vermitteln. Wo sie fehlt, bilden wir unsere pst_136.021
früheren Jahre unmerklich um und verwandeln die Vergangenheit pst_136.022
so, wie wir uns selbst verwandelt haben. pst_136.023
Dann sind wir gewesen, was wir jetzt sind, oder verstehen pst_136.024
das Frühere nicht mehr und hören von uns erzählen, pst_136.025
als ob es sich um einen Fremden handeln würde, pst_136.026
eigentümlich piquiert, daß dieser Fremde wir selbst gewesen pst_136.027
sein sollen.

pst_136.028

  Homer weiß nichts von einer Entwicklung. Die späteren pst_136.029
Jahre des Menschen gehen bei ihm nicht aus den pst_136.030
früheren hervor; sie schließen sich einfach an. Und weil pst_136.031
er nicht vor- und nicht zurückdenkt, entgeht ihm das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0140" n="136"/><lb n="pst_136.001"/>
und der Ilias setzt zwar die Schrift voraus. Doch eben <lb n="pst_136.002"/>
weil sie noch nicht durchdringt, weil Einzelnes immer <lb n="pst_136.003"/>
wieder aus dem vorgezeichneten Rahmen herausfällt, <lb n="pst_136.004"/>
erkennen wir, daß die Schrift hier noch am Anfang ihrer <lb n="pst_136.005"/>
Wirksamkeit steht und daß die homerischen Epen <lb n="pst_136.006"/>
den Ursprung aus mündlicher Überlieferung nicht zu <lb n="pst_136.007"/>
verleugnen imstande sind. Das scherzhafte Wort vom <lb n="pst_136.008"/>
Schläfchen Homers &#x2013; «quandoque bonus dormitat <lb n="pst_136.009"/>
Homerus» &#x2013; darf hier wohl als antikes Zeugnis für die <lb n="pst_136.010"/>
Vergeßlichkeit des der Schrift noch Ungewohnten beigefügt <lb n="pst_136.011"/>
werden.</p>
          <lb n="pst_136.012"/>
          <p>  Endlich ist zu sagen, daß erst die Schrift umfassende <lb n="pst_136.013"/>
geschichtliche Betrachtung des Menschenlebens ermöglicht. <lb n="pst_136.014"/>
Wer hat nicht schon verwundert frühere Tagebuchnotizen <lb n="pst_136.015"/>
gelesen? In dieser Verwunderung spüren <lb n="pst_136.016"/>
wir noch die neue Dimension der Erkenntnis, welche <lb n="pst_136.017"/>
die Schrift dem Menschen erschließt: So war ich früher, <lb n="pst_136.018"/>
so bin ich jetzt; wie werde ich in zehn Jahren sein? Nur <lb n="pst_136.019"/>
schriftliche Aufzeichnung kann uns zuverlässig solche <lb n="pst_136.020"/>
Einsicht vermitteln. Wo sie fehlt, bilden wir unsere <lb n="pst_136.021"/>
früheren Jahre unmerklich um und verwandeln die Vergangenheit <lb n="pst_136.022"/>
so, wie wir uns selbst verwandelt haben. <lb n="pst_136.023"/>
Dann sind wir gewesen, was wir jetzt sind, oder verstehen <lb n="pst_136.024"/>
das Frühere nicht mehr und hören von uns erzählen, <lb n="pst_136.025"/>
als ob es sich um einen Fremden handeln würde, <lb n="pst_136.026"/>
eigentümlich piquiert, daß dieser Fremde wir selbst gewesen <lb n="pst_136.027"/>
sein sollen.</p>
          <lb n="pst_136.028"/>
          <p>  Homer weiß nichts von einer Entwicklung. Die späteren <lb n="pst_136.029"/>
Jahre des Menschen gehen bei ihm nicht aus den <lb n="pst_136.030"/>
früheren hervor; sie schließen sich einfach an. Und weil <lb n="pst_136.031"/>
er nicht vor- und nicht zurückdenkt, entgeht ihm das
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[136/0140] pst_136.001 und der Ilias setzt zwar die Schrift voraus. Doch eben pst_136.002 weil sie noch nicht durchdringt, weil Einzelnes immer pst_136.003 wieder aus dem vorgezeichneten Rahmen herausfällt, pst_136.004 erkennen wir, daß die Schrift hier noch am Anfang ihrer pst_136.005 Wirksamkeit steht und daß die homerischen Epen pst_136.006 den Ursprung aus mündlicher Überlieferung nicht zu pst_136.007 verleugnen imstande sind. Das scherzhafte Wort vom pst_136.008 Schläfchen Homers – «quandoque bonus dormitat pst_136.009 Homerus» – darf hier wohl als antikes Zeugnis für die pst_136.010 Vergeßlichkeit des der Schrift noch Ungewohnten beigefügt pst_136.011 werden. pst_136.012   Endlich ist zu sagen, daß erst die Schrift umfassende pst_136.013 geschichtliche Betrachtung des Menschenlebens ermöglicht. pst_136.014 Wer hat nicht schon verwundert frühere Tagebuchnotizen pst_136.015 gelesen? In dieser Verwunderung spüren pst_136.016 wir noch die neue Dimension der Erkenntnis, welche pst_136.017 die Schrift dem Menschen erschließt: So war ich früher, pst_136.018 so bin ich jetzt; wie werde ich in zehn Jahren sein? Nur pst_136.019 schriftliche Aufzeichnung kann uns zuverlässig solche pst_136.020 Einsicht vermitteln. Wo sie fehlt, bilden wir unsere pst_136.021 früheren Jahre unmerklich um und verwandeln die Vergangenheit pst_136.022 so, wie wir uns selbst verwandelt haben. pst_136.023 Dann sind wir gewesen, was wir jetzt sind, oder verstehen pst_136.024 das Frühere nicht mehr und hören von uns erzählen, pst_136.025 als ob es sich um einen Fremden handeln würde, pst_136.026 eigentümlich piquiert, daß dieser Fremde wir selbst gewesen pst_136.027 sein sollen. pst_136.028   Homer weiß nichts von einer Entwicklung. Die späteren pst_136.029 Jahre des Menschen gehen bei ihm nicht aus den pst_136.030 früheren hervor; sie schließen sich einfach an. Und weil pst_136.031 er nicht vor- und nicht zurückdenkt, entgeht ihm das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/140
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/140>, abgerufen am 24.11.2024.