Die Sprache gründet nach Herder in der "Besinnung" pst_098.002 oder "Reflexion":
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"Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner pst_098.004 Seele so frei würket, daß sie aus dem ganzen Ozean pst_098.005 von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, pst_098.006 Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, pst_098.007 sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten, pst_098.008 und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. Er beweiset pst_098.009 Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden pst_098.010 Traum der Bilder, die seine Seele vorbeistreichen, pst_098.011 sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf Einem pst_098.012 Bilde freiwillig verweilen, es in helle, ruhigere Obacht pst_098.013 nehmen, und sich Merkmale absondern kann, daß dies pst_098.014 der Gegenstand und kein andrer sei. Er beweiset also pst_098.015 Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft pst_098.016 oder klar erkennen; sondern Eine oder mehrere als pst_098.017 unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennenpst_098.018 kann: der erste Aktus dieser Anerkenntnis gibt deutlichen pst_098.019 Begriff; es ist das erste Urteil der Seele - und -
pst_098.020
wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein pst_098.021 Merkmal, was er absondern mußte, und was, als Merkmal pst_098.022 der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan, lasset pst_098.023 uns ihm das Eureka zurufen! Dies Erste Merkmal pst_098.024 der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm pst_098.025 ist die Menschliche Sprache erfunden!
pst_098.026
Lasset jenes Lamm, als Bild, sein Auge vorbeigehn: pst_098.027 ihm wie keinem andern Tiere. Sobald er in die Bedürfnis pst_098.028 kommt, das Schaf kennen zu lernen: so störet pst_098.029 ihn kein Instinkt; so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu pst_098.030 nahe hin, oder davon ab; es steht da, ganz wie es sich pst_098.031 seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht - seine besonnen
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Die Sprache gründet nach Herder in der «Besinnung» pst_098.002 oder «Reflexion»:
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«Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner pst_098.004 Seele so frei würket, daß sie aus dem ganzen Ozean pst_098.005 von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, pst_098.006 Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, pst_098.007 sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten, pst_098.008 und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. Er beweiset pst_098.009 Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden pst_098.010 Traum der Bilder, die seine Seele vorbeistreichen, pst_098.011 sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf Einem pst_098.012 Bilde freiwillig verweilen, es in helle, ruhigere Obacht pst_098.013 nehmen, und sich Merkmale absondern kann, daß dies pst_098.014 der Gegenstand und kein andrer sei. Er beweiset also pst_098.015 Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft pst_098.016 oder klar erkennen; sondern Eine oder mehrere als pst_098.017 unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennenpst_098.018 kann: der erste Aktus dieser Anerkenntnis gibt deutlichen pst_098.019 Begriff; es ist das erste Urteil der Seele – und –
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wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein pst_098.021 Merkmal, was er absondern mußte, und was, als Merkmal pst_098.022 der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan, lasset pst_098.023 uns ihm das Εὕρηκα zurufen! Dies Erste Merkmal pst_098.024 der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm pst_098.025 ist die Menschliche Sprache erfunden!
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Lasset jenes Lamm, als Bild, sein Auge vorbeigehn: pst_098.027 ihm wie keinem andern Tiere. Sobald er in die Bedürfnis pst_098.028 kommt, das Schaf kennen zu lernen: so störet pst_098.029 ihn kein Instinkt; so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu pst_098.030 nahe hin, oder davon ab; es steht da, ganz wie es sich pst_098.031 seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht – seine besonnen
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Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, pst_098.007
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Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden pst_098.010
Traum der Bilder, die seine Seele vorbeistreichen, pst_098.011
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Bilde freiwillig verweilen, es in helle, ruhigere Obacht pst_098.013
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der Gegenstand und kein andrer sei. Er beweiset also pst_098.015
Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft pst_098.016
oder klar erkennen; sondern Eine oder mehrere als pst_098.017
unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen pst_098.018
kann: der erste Aktus dieser Anerkenntnis gibt deutlichen pst_098.019
Begriff; es ist das erste Urteil der Seele – und –
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wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein pst_098.021
Merkmal, was er absondern mußte, und was, als Merkmal pst_098.022
der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan, lasset pst_098.023
uns ihm das Εὕρηκα zurufen! Dies Erste Merkmal pst_098.024
der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm pst_098.025
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Lasset jenes Lamm, als Bild, sein Auge vorbeigehn: pst_098.027
ihm wie keinem andern Tiere. Sobald er in die Bedürfnis pst_098.028
kommt, das Schaf kennen zu lernen: so störet pst_098.029
ihn kein Instinkt; so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu pst_098.030
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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/102>, abgerufen am 16.02.2025.
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