pst_096.001 Denn "woher?" kann ich nur fragen, wenn ein festes pst_096.002 "hier" besteht, wie andrerseits das "hier" sich aus dem pst_096.003 Wissen um ein "woher" bestimmt. Die Antwort auf pst_096.004 die Frage verankert das Fragliche in einem Grund. Der pst_096.005 Grund ist die Vergangenheit, die, ein Abgeschlossenes, pst_096.006 stillsteht und sich nicht mehr ändern kann. Zu diesem pst_096.007 Vergangenen muß der Fragende selber wieder Stellung pst_096.008 beziehen. So bildet sich das Gegenüber, in dem der pst_096.009 Fragende sowohl wie das Befragte "festgestellt" sind.
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Und eben darauf kommt es an. Die Frage nach dem pst_096.011 Vergangenen, die Glaukos nicht beantworten will, gehört pst_096.012 zum wesentlichsten Tun des epischen Menschen: Er stellt pst_096.013 fest. Dies kann und will der Lyriker nicht. Denn er selber pst_096.014 ist bewegt in eins mit dem Bewegten, so daß er nie pst_096.015 dazu kommt, zu sagen: "Das ist" (vergleiche Seite 46).
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"Mauern sieht er und Palästepst_096.017 Stets mit andern Augen an."
(Goethe)pst_096.018
Die Sonne, die am Morgen aufgeht, ist seine Hoffnung pst_096.019 und sein Mut. Die Sonne, die abends untergeht, ist pst_096.020 grandiose Erschütterung. Ein Wissen, daß es dieselbe pst_096.021 Sonne ist, die auf- und untergeht, schwingt freilich mit, pst_096.022 schon weil er sich der Sprache bedient und "Sonne" sagt. pst_096.023 Aber es ist nicht von Belang. Die Selbigkeit tritt hinter pst_096.024 dem Wandel der stimmungsvollen Erscheinung zurück.
pst_096.025
Im Epischen dagegen wird gerade die Selbigkeit betont. pst_096.026 Weil der Epiker selber beharrt, vermag er einzusehen, pst_096.027 daß etwas wiederkehrt und dasselbe ist. Wie pst_096.028 sehr ihn diese Entdeckung beglückt, verraten in den pst_096.029 homerischen Epen noch die stereotypen Formeln: "der pst_096.030 reisige Hektor, der hurtige Renner Achilleus, Athene
pst_096.001 Denn «woher?» kann ich nur fragen, wenn ein festes pst_096.002 «hier» besteht, wie andrerseits das «hier» sich aus dem pst_096.003 Wissen um ein «woher» bestimmt. Die Antwort auf pst_096.004 die Frage verankert das Fragliche in einem Grund. Der pst_096.005 Grund ist die Vergangenheit, die, ein Abgeschlossenes, pst_096.006 stillsteht und sich nicht mehr ändern kann. Zu diesem pst_096.007 Vergangenen muß der Fragende selber wieder Stellung pst_096.008 beziehen. So bildet sich das Gegenüber, in dem der pst_096.009 Fragende sowohl wie das Befragte «festgestellt» sind.
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Und eben darauf kommt es an. Die Frage nach dem pst_096.011 Vergangenen, die Glaukos nicht beantworten will, gehört pst_096.012 zum wesentlichsten Tun des epischen Menschen: Er stellt pst_096.013 fest. Dies kann und will der Lyriker nicht. Denn er selber pst_096.014 ist bewegt in eins mit dem Bewegten, so daß er nie pst_096.015 dazu kommt, zu sagen: «Das ist» (vergleiche Seite 46).
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«Mauern sieht er und Palästepst_096.017 Stets mit andern Augen an.»
(Goethe)pst_096.018
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Im Epischen dagegen wird gerade die Selbigkeit betont. pst_096.026 Weil der Epiker selber beharrt, vermag er einzusehen, pst_096.027 daß etwas wiederkehrt und dasselbe ist. Wie pst_096.028 sehr ihn diese Entdeckung beglückt, verraten in den pst_096.029 homerischen Epen noch die stereotypen Formeln: «der pst_096.030 reisige Hektor, der hurtige Renner Achilleus, Athene
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«Mauern sieht er und Paläste pst_096.017
Stets mit andern Augen an.»
(Goethe)
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und sein Mut. Die Sonne, die abends untergeht, ist pst_096.020
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reisige Hektor, der hurtige Renner Achilleus, Athene
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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/100>, abgerufen am 17.02.2025.
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