Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

merksamkeit der Unterweisung zu, und es währte gar nicht
lange, so konnte es sie alle von einander unterscheiden und
jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede
ihre Besonderheiten, die Einem gleich im Sinne bleiben
mußten, man mußte nur Allem genau zusehen, und das
that Heidi. Da war der große Türk mit den starken Hör¬
nern, der wollte mit diesen immer gegen alle andern stoßen,
und die meisten liefen davon, wenn er kam, und wollten
Nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der kecke
Distelfink, das schlanke, behende Gaißchen, wich ihm nicht
aus, sondern rannte von sich aus manchmal drei, vier Mal
hinter einander so rasch und tüchtig gegen ihn an, daß der
große Türk öfters ganz erstaunt dastand und nicht mehr
angriff, denn der Distelfink stand ganz kriegslustig vor ihm
und hatte scharfe Hörnchen. Da war das kleine, weiße
Schneehöppli, das immer so eindringlich und flehentlich
meckerte, daß Heidi schon mehrmals zu ihm hingelaufen
war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. Auch
jetzt sprang das Kind wieder hin, denn die junge, jam¬
mernde Stimme hatte eben wieder flehentlich gerufen.
Heidi legte seinen Arm um den Hals des Gaißleins und
fragte ganz theilnehmend: "Was hast du, Schneehöppli?
Warum rufst du so um Hülfe?" Das Gaißlein schmiegte
sich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt
ganz still. Peter rief von seinem Sitz aus, mit einigen
Unterbrechungen, denn er hatte immer noch zu beißen und zu

merkſamkeit der Unterweiſung zu, und es währte gar nicht
lange, ſo konnte es ſie alle von einander unterſcheiden und
jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede
ihre Beſonderheiten, die Einem gleich im Sinne bleiben
mußten, man mußte nur Allem genau zuſehen, und das
that Heidi. Da war der große Türk mit den ſtarken Hör¬
nern, der wollte mit dieſen immer gegen alle andern ſtoßen,
und die meiſten liefen davon, wenn er kam, und wollten
Nichts von dem groben Kameraden wiſſen. Nur der kecke
Diſtelfink, das ſchlanke, behende Gaißchen, wich ihm nicht
aus, ſondern rannte von ſich aus manchmal drei, vier Mal
hinter einander ſo raſch und tüchtig gegen ihn an, daß der
große Türk öfters ganz erſtaunt daſtand und nicht mehr
angriff, denn der Diſtelfink ſtand ganz kriegsluſtig vor ihm
und hatte ſcharfe Hörnchen. Da war das kleine, weiße
Schneehöppli, das immer ſo eindringlich und flehentlich
meckerte, daß Heidi ſchon mehrmals zu ihm hingelaufen
war und es tröſtend beim Kopf genommen hatte. Auch
jetzt ſprang das Kind wieder hin, denn die junge, jam¬
mernde Stimme hatte eben wieder flehentlich gerufen.
Heidi legte ſeinen Arm um den Hals des Gaißleins und
fragte ganz theilnehmend: „Was haſt du, Schneehöppli?
Warum rufſt du ſo um Hülfe?“ Das Gaißlein ſchmiegte
ſich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt
ganz ſtill. Peter rief von ſeinem Sitz aus, mit einigen
Unterbrechungen, denn er hatte immer noch zu beißen und zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0051" n="41"/>
merk&#x017F;amkeit der Unterwei&#x017F;ung zu, und es währte gar nicht<lb/>
lange, &#x017F;o konnte es &#x017F;ie alle von einander unter&#x017F;cheiden und<lb/>
jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede<lb/>
ihre Be&#x017F;onderheiten, die Einem gleich im Sinne bleiben<lb/>
mußten, man mußte nur Allem genau zu&#x017F;ehen, und das<lb/>
that Heidi. Da war der große Türk mit den &#x017F;tarken Hör¬<lb/>
nern, der wollte mit die&#x017F;en immer gegen alle andern &#x017F;toßen,<lb/>
und die mei&#x017F;ten liefen davon, wenn er kam, und wollten<lb/>
Nichts von dem groben Kameraden wi&#x017F;&#x017F;en. Nur der kecke<lb/>
Di&#x017F;telfink, das &#x017F;chlanke, behende Gaißchen, wich ihm nicht<lb/>
aus, &#x017F;ondern rannte von &#x017F;ich aus manchmal drei, vier Mal<lb/>
hinter einander &#x017F;o ra&#x017F;ch und tüchtig gegen ihn an, daß der<lb/>
große Türk öfters ganz er&#x017F;taunt da&#x017F;tand und nicht mehr<lb/>
angriff, denn der Di&#x017F;telfink &#x017F;tand ganz kriegslu&#x017F;tig vor ihm<lb/>
und hatte &#x017F;charfe Hörnchen. Da war das kleine, weiße<lb/>
Schneehöppli, das immer &#x017F;o eindringlich und flehentlich<lb/>
meckerte, daß Heidi &#x017F;chon mehrmals zu ihm hingelaufen<lb/>
war und es trö&#x017F;tend beim Kopf genommen hatte. Auch<lb/>
jetzt &#x017F;prang das Kind wieder hin, denn die junge, jam¬<lb/>
mernde Stimme hatte eben wieder flehentlich gerufen.<lb/>
Heidi legte &#x017F;einen Arm um den Hals des Gaißleins und<lb/>
fragte ganz theilnehmend: &#x201E;Was ha&#x017F;t du, Schneehöppli?<lb/>
Warum ruf&#x017F;t du &#x017F;o um Hülfe?&#x201C; Das Gaißlein &#x017F;chmiegte<lb/>
&#x017F;ich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt<lb/>
ganz &#x017F;till. Peter rief von &#x017F;einem Sitz aus, mit einigen<lb/>
Unterbrechungen, denn er hatte immer noch zu beißen und zu<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[41/0051] merkſamkeit der Unterweiſung zu, und es währte gar nicht lange, ſo konnte es ſie alle von einander unterſcheiden und jede bei ihrem Namen nennen, denn es hatte eine jede ihre Beſonderheiten, die Einem gleich im Sinne bleiben mußten, man mußte nur Allem genau zuſehen, und das that Heidi. Da war der große Türk mit den ſtarken Hör¬ nern, der wollte mit dieſen immer gegen alle andern ſtoßen, und die meiſten liefen davon, wenn er kam, und wollten Nichts von dem groben Kameraden wiſſen. Nur der kecke Diſtelfink, das ſchlanke, behende Gaißchen, wich ihm nicht aus, ſondern rannte von ſich aus manchmal drei, vier Mal hinter einander ſo raſch und tüchtig gegen ihn an, daß der große Türk öfters ganz erſtaunt daſtand und nicht mehr angriff, denn der Diſtelfink ſtand ganz kriegsluſtig vor ihm und hatte ſcharfe Hörnchen. Da war das kleine, weiße Schneehöppli, das immer ſo eindringlich und flehentlich meckerte, daß Heidi ſchon mehrmals zu ihm hingelaufen war und es tröſtend beim Kopf genommen hatte. Auch jetzt ſprang das Kind wieder hin, denn die junge, jam¬ mernde Stimme hatte eben wieder flehentlich gerufen. Heidi legte ſeinen Arm um den Hals des Gaißleins und fragte ganz theilnehmend: „Was haſt du, Schneehöppli? Warum rufſt du ſo um Hülfe?“ Das Gaißlein ſchmiegte ſich nahe und vertrauensvoll an Heidi an und war jetzt ganz ſtill. Peter rief von ſeinem Sitz aus, mit einigen Unterbrechungen, denn er hatte immer noch zu beißen und zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/51
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/51>, abgerufen am 23.11.2024.