anders darstellte, als die allgemeine Meinung war und das ihnen jetzt auf einmal glaublich schien, daß es mehr und mehr so wurde, als warten sie Alle da, um einen alten Freund zu bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.
Der Alm-Oehi war unterdessen an die Thür der Stu¬ dierstube getreten und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem Eintretenden entgegen, nicht über¬ rascht, wie er wohl hätte sein können, sondern so, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte Erscheinung in der Kirche mußte ihm nicht entgangen sein. Er ergriff die Hand des Alten und schüttelte sie wiederholt mit der größten Herzlich¬ keit, und der Alm-Oehi stand schweigend da und konnte erst kein Wort herausbringen, denn auf solchen herzlichen Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt faßte er sich und sagte: "Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, daß er mir die Worte vergessen möchte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und daß er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerspenstig war gegen seinen wohlmeinenden Rath. Der Herr Pfarrer hat ja in Allem Recht gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt seinem Rathe folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen, denn die harte Jahreszeit ist Nichts für das Kind dort oben, es ist zu zart, und wenn dann auch die Leute hier unten mich von der Seite ansehen, so wie Einen, dem nicht zu trauen ist, so habe ich es nicht besser verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht thun."
anders darſtellte, als die allgemeine Meinung war und das ihnen jetzt auf einmal glaublich ſchien, daß es mehr und mehr ſo wurde, als warten ſie Alle da, um einen alten Freund zu bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.
Der Alm-Oehi war unterdeſſen an die Thür der Stu¬ dierſtube getreten und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer machte auf und trat dem Eintretenden entgegen, nicht über¬ raſcht, wie er wohl hätte ſein können, ſondern ſo, als habe er ihn erwartet; die ungewohnte Erſcheinung in der Kirche mußte ihm nicht entgangen ſein. Er ergriff die Hand des Alten und ſchüttelte ſie wiederholt mit der größten Herzlich¬ keit, und der Alm-Oehi ſtand ſchweigend da und konnte erſt kein Wort herausbringen, denn auf ſolchen herzlichen Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt faßte er ſich und ſagte: „Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, daß er mir die Worte vergeſſen möchte, die ich zu ihm auf der Alm geredet habe, und daß er mir nicht nachtragen wolle, wenn ich widerſpenſtig war gegen ſeinen wohlmeinenden Rath. Der Herr Pfarrer hat ja in Allem Recht gehabt und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt ſeinem Rathe folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli beziehen, denn die harte Jahreszeit iſt Nichts für das Kind dort oben, es iſt zu zart, und wenn dann auch die Leute hier unten mich von der Seite anſehen, ſo wie Einen, dem nicht zu trauen iſt, ſo habe ich es nicht beſſer verdient, und der Herr Pfarrer wird es ja nicht thun.“
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anders darſtellte, als die allgemeine Meinung war und das
ihnen jetzt auf einmal glaublich ſchien, daß es mehr und
mehr ſo wurde, als warten ſie Alle da, um einen alten
Freund zu bewillkommnen, der ihnen lange gemangelt hatte.
Der Alm-Oehi war unterdeſſen an die Thür der Stu¬
dierſtube getreten und hatte angeklopft. Der Herr Pfarrer
machte auf und trat dem Eintretenden entgegen, nicht über¬
raſcht, wie er wohl hätte ſein können, ſondern ſo, als habe
er ihn erwartet; die ungewohnte Erſcheinung in der Kirche
mußte ihm nicht entgangen ſein. Er ergriff die Hand des
Alten und ſchüttelte ſie wiederholt mit der größten Herzlich¬
keit, und der Alm-Oehi ſtand ſchweigend da und konnte erſt
kein Wort herausbringen, denn auf ſolchen herzlichen
Empfang war er nicht vorbereitet. Jetzt faßte er ſich und
ſagte: „Ich komme, um den Herrn Pfarrer zu bitten, daß
er mir die Worte vergeſſen möchte, die ich zu ihm auf der
Alm geredet habe, und daß er mir nicht nachtragen wolle,
wenn ich widerſpenſtig war gegen ſeinen wohlmeinenden
Rath. Der Herr Pfarrer hat ja in Allem Recht gehabt
und ich war im Unrecht, aber ich will jetzt ſeinem Rathe
folgen und auf den Winter wieder ein Quartier im Dörfli
beziehen, denn die harte Jahreszeit iſt Nichts für das Kind
dort oben, es iſt zu zart, und wenn dann auch die Leute
hier unten mich von der Seite anſehen, ſo wie Einen, dem
nicht zu trauen iſt, ſo habe ich es nicht beſſer verdient,
und der Herr Pfarrer wird es ja nicht thun.“
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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/244>, abgerufen am 17.02.2025.
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