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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte;
von Zeit zu Zeit mußte es aber plötzlich stille stehen, denn
es hatte ganz den Athem verloren; sein Korb am Arm
war doch ziemlich schwer, und dazu ging es nun immer
steiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte nur noch Einen
Gedanken: "Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht
gestorben unterdessen?" Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben
in der Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen,
Heidi rannte noch mehr, immer mehr und immer lauter
schlug ihm das Herz. -- Jetzt war es oben -- vor Zittern
konnte es fast die Thür nicht aufmachen -- doch jetzt --
es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und stand
da, völlig außer Athem, und brachte keinen Ton hervor.

"Ach du mein Gott", tönte es aus der Ecke hervor,
"so sprang unser Heidi herein, ach, wenn ich es noch Ein
Mal im Leben bei mir haben könnte! Wer ist hereinge¬
kommen?"

"Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja", rief Heidi
jetzt und stürzte nach der Ecke und gleich auf seine Kniee
zu der Großmutter heran, faßte ihren Arm und ihre Hände,
und legte sich an sie und konnte vor Freude gar Nichts
mehr sagen. Erst war die Großmutter so überrascht, daß
auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr sie
mit der Hand streichelnd über Heidi's Kraushaare hin, und
nun sagte sie ein Mal über das andere: "Ja, ja, das sind

Kleine Geschichten. III. 14

Heidi lief vom Dörfli bergan, ſo ſchnell es nur konnte;
von Zeit zu Zeit mußte es aber plötzlich ſtille ſtehen, denn
es hatte ganz den Athem verloren; ſein Korb am Arm
war doch ziemlich ſchwer, und dazu ging es nun immer
ſteiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte nur noch Einen
Gedanken: „Wird auch die Großmutter noch auf ihrem
Plätzchen ſitzen am Spinnrad in der Ecke, iſt ſie auch nicht
geſtorben unterdeſſen?“ Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben
in der Vertiefung an der Alm, ſein Herz fing an zu klopfen,
Heidi rannte noch mehr, immer mehr und immer lauter
ſchlug ihm das Herz. — Jetzt war es oben — vor Zittern
konnte es faſt die Thür nicht aufmachen — doch jetzt —
es ſprang hinein bis mitten in die kleine Stube und ſtand
da, völlig außer Athem, und brachte keinen Ton hervor.

„Ach du mein Gott“, tönte es aus der Ecke hervor,
„ſo ſprang unſer Heidi herein, ach, wenn ich es noch Ein
Mal im Leben bei mir haben könnte! Wer iſt hereinge¬
kommen?“

„Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja“, rief Heidi
jetzt und ſtürzte nach der Ecke und gleich auf ſeine Kniee
zu der Großmutter heran, faßte ihren Arm und ihre Hände,
und legte ſich an ſie und konnte vor Freude gar Nichts
mehr ſagen. Erſt war die Großmutter ſo überraſcht, daß
auch ſie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr ſie
mit der Hand ſtreichelnd über Heidi's Kraushaare hin, und
nun ſagte ſie ein Mal über das andere: „Ja, ja, das ſind

Kleine Geſchichten. III. 14
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[209/0219] Heidi lief vom Dörfli bergan, ſo ſchnell es nur konnte; von Zeit zu Zeit mußte es aber plötzlich ſtille ſtehen, denn es hatte ganz den Athem verloren; ſein Korb am Arm war doch ziemlich ſchwer, und dazu ging es nun immer ſteiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte nur noch Einen Gedanken: „Wird auch die Großmutter noch auf ihrem Plätzchen ſitzen am Spinnrad in der Ecke, iſt ſie auch nicht geſtorben unterdeſſen?“ Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der Vertiefung an der Alm, ſein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte noch mehr, immer mehr und immer lauter ſchlug ihm das Herz. — Jetzt war es oben — vor Zittern konnte es faſt die Thür nicht aufmachen — doch jetzt — es ſprang hinein bis mitten in die kleine Stube und ſtand da, völlig außer Athem, und brachte keinen Ton hervor. „Ach du mein Gott“, tönte es aus der Ecke hervor, „ſo ſprang unſer Heidi herein, ach, wenn ich es noch Ein Mal im Leben bei mir haben könnte! Wer iſt hereinge¬ kommen?“ „Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja“, rief Heidi jetzt und ſtürzte nach der Ecke und gleich auf ſeine Kniee zu der Großmutter heran, faßte ihren Arm und ihre Hände, und legte ſich an ſie und konnte vor Freude gar Nichts mehr ſagen. Erſt war die Großmutter ſo überraſcht, daß auch ſie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr ſie mit der Hand ſtreichelnd über Heidi's Kraushaare hin, und nun ſagte ſie ein Mal über das andere: „Ja, ja, das ſind Kleine Geſchichten. III. 14

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/219>, abgerufen am 23.11.2024.