von oben bis unten. Die Herren schauten einander in großem Erstaunen an.
"Ich glaube wahrhaftig, Sesemann, es ist deine kleine Wasserträgerin", sagte der Doktor.
"Kind, was soll das heißen?" fragte nun Herr Sese¬ mann. "Was wolltest du thun? Warum bist du hier heruntergekommen?"
Schneeweiß vor Schrecken stand Heidi vor ihm und sagte fast tonlos: "Ich weiß nicht."
Jetzt trat der Doktor vor: "Sesemann, der Fall ge¬ hört in mein Gebiet, geh', setz' dich für einmal in deinen Lehnstuhl drinnen, ich will vor Allem das Kind hinbringen, wo es hin gehört."
Damit legte er seinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
"Nicht fürchten, nicht fürchten", sagte er freundlich im Hinaufsteigen, "nur ganz ruhig sein, da ist gar nichts Schlimmes dabei, nur getrost sein."
In Heidi's Zimmer eingetreten, stellte der Doktor seinen Leuchter auf den Tisch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in sein Bett hinein und deckte es sorgfältig zu. Dann setzte er sich auf den Sessel am Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und sagte begütigend: "So, nun ist Alles
von oben bis unten. Die Herren ſchauten einander in großem Erſtaunen an.
„Ich glaube wahrhaftig, Seſemann, es iſt deine kleine Waſſerträgerin“, ſagte der Doktor.
„Kind, was ſoll das heißen?“ fragte nun Herr Seſe¬ mann. „Was wollteſt du thun? Warum biſt du hier heruntergekommen?“
Schneeweiß vor Schrecken ſtand Heidi vor ihm und ſagte faſt tonlos: „Ich weiß nicht.“
Jetzt trat der Doktor vor: „Seſemann, der Fall ge¬ hört in mein Gebiet, geh', ſetz' dich für einmal in deinen Lehnſtuhl drinnen, ich will vor Allem das Kind hinbringen, wo es hin gehört.“
Damit legte er ſeinen Revolver auf den Boden, nahm das zitternde Kind ganz väterlich bei der Hand und ging mit ihm der Treppe zu.
„Nicht fürchten, nicht fürchten“, ſagte er freundlich im Hinaufſteigen, „nur ganz ruhig ſein, da iſt gar nichts Schlimmes dabei, nur getroſt ſein.“
In Heidi's Zimmer eingetreten, ſtellte der Doktor ſeinen Leuchter auf den Tiſch, nahm Heidi auf den Arm, legte es in ſein Bett hinein und deckte es ſorgfältig zu. Dann ſetzte er ſich auf den Seſſel am Bett und wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht mehr an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind bei der Hand und ſagte begütigend: „So, nun iſt Alles
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von oben bis unten. Die Herren ſchauten einander in
großem Erſtaunen an.
„Ich glaube wahrhaftig, Seſemann, es iſt deine kleine
Waſſerträgerin“, ſagte der Doktor.
„Kind, was ſoll das heißen?“ fragte nun Herr Seſe¬
mann. „Was wollteſt du thun? Warum biſt du hier
heruntergekommen?“
Schneeweiß vor Schrecken ſtand Heidi vor ihm und ſagte
faſt tonlos: „Ich weiß nicht.“
Jetzt trat der Doktor vor: „Seſemann, der Fall ge¬
hört in mein Gebiet, geh', ſetz' dich für einmal in deinen
Lehnſtuhl drinnen, ich will vor Allem das Kind hinbringen,
wo es hin gehört.“
Damit legte er ſeinen Revolver auf den Boden, nahm
das zitternde Kind ganz väterlich bei der Hand und ging
mit ihm der Treppe zu.
„Nicht fürchten, nicht fürchten“, ſagte er freundlich im
Hinaufſteigen, „nur ganz ruhig ſein, da iſt gar nichts
Schlimmes dabei, nur getroſt ſein.“
In Heidi's Zimmer eingetreten, ſtellte der Doktor
ſeinen Leuchter auf den Tiſch, nahm Heidi auf den Arm,
legte es in ſein Bett hinein und deckte es ſorgfältig
zu. Dann ſetzte er ſich auf den Seſſel am Bett und
wartete, bis Heidi ein wenig beruhigt war und nicht
mehr an allen Gliedern bebte. Dann nahm er das Kind
bei der Hand und ſagte begütigend: „So, nun iſt Alles
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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/198>, abgerufen am 17.02.2025.
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