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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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Licht besah, that er einen Schreckensruf, denn der Johann
war kreideweiß und zitterte wie ein Espenlaub. "Was
ist's denn? Was war denn draußen?" fragte der Se¬
bastian theilnehmend.

"Sperrangelweit offen die Thür", keuchte Johann,
"und auf der Treppe eine weiße Gestalt, siehst du, Seba¬
stian, nur so die Treppe hinauf -- husch und verschwunden."

Dem Sebastian gruselte es den ganzen Rücken hinauf.
Jetzt setzten sich die Beiden ganz nah' zusammen und regten
sich nicht mehr, bis daß der helle Morgen da war und es
auf der Straße anfing, lebendig zu werden. Dann traten
sie zusammen hinaus, machten die weit offen stehende Haus¬
thüre zu und stiegen dann hinauf, um Fräulein Rotten¬
meier Bericht zu erstatten über das Erlebte. Die Dame
war auch schon zu sprechen, denn die Erwartung der zu
vernehmenden Dinge hatte sie nicht mehr schlafen lassen.
Sobald sie nun vernommen hatte, was vorgefallen war,
setzte sie sich hin und schrieb einen Brief an Herrn Sese¬
mann, wie er noch keinen erhalten hatte: er möge sich nur
sogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach Hause zurück¬
kehren, denn da geschähen unerhörte Dinge. Dann wurde
ihm das Vorgefallene mitgetheilt, so wie auch die Nach¬
richt, daß fortgesetzt die Thüre jeden Morgen offen stehe;
daß also Keiner im Hause seines Lebens mehr sicher sei bei
dergestalt allnächtlich offen stehender Hauspforte und daß man
überhaupt nicht absehen könne, was für dunkle Folgen dieser

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Licht beſah, that er einen Schreckensruf, denn der Johann
war kreideweiß und zitterte wie ein Espenlaub. „Was
iſt's denn? Was war denn draußen?“ fragte der Se¬
baſtian theilnehmend.

„Sperrangelweit offen die Thür“, keuchte Johann,
„und auf der Treppe eine weiße Geſtalt, ſiehſt du, Seba¬
ſtian, nur ſo die Treppe hinauf — huſch und verſchwunden.“

Dem Sebaſtian gruſelte es den ganzen Rücken hinauf.
Jetzt ſetzten ſich die Beiden ganz nah' zuſammen und regten
ſich nicht mehr, bis daß der helle Morgen da war und es
auf der Straße anfing, lebendig zu werden. Dann traten
ſie zuſammen hinaus, machten die weit offen ſtehende Haus¬
thüre zu und ſtiegen dann hinauf, um Fräulein Rotten¬
meier Bericht zu erſtatten über das Erlebte. Die Dame
war auch ſchon zu ſprechen, denn die Erwartung der zu
vernehmenden Dinge hatte ſie nicht mehr ſchlafen laſſen.
Sobald ſie nun vernommen hatte, was vorgefallen war,
ſetzte ſie ſich hin und ſchrieb einen Brief an Herrn Seſe¬
mann, wie er noch keinen erhalten hatte: er möge ſich nur
ſogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach Hauſe zurück¬
kehren, denn da geſchähen unerhörte Dinge. Dann wurde
ihm das Vorgefallene mitgetheilt, ſo wie auch die Nach¬
richt, daß fortgeſetzt die Thüre jeden Morgen offen ſtehe;
daß alſo Keiner im Hauſe ſeines Lebens mehr ſicher ſei bei
dergeſtalt allnächtlich offen ſtehender Hauspforte und daß man
überhaupt nicht abſehen könne, was für dunkle Folgen dieſer

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[179/0189] Licht beſah, that er einen Schreckensruf, denn der Johann war kreideweiß und zitterte wie ein Espenlaub. „Was iſt's denn? Was war denn draußen?“ fragte der Se¬ baſtian theilnehmend. „Sperrangelweit offen die Thür“, keuchte Johann, „und auf der Treppe eine weiße Geſtalt, ſiehſt du, Seba¬ ſtian, nur ſo die Treppe hinauf — huſch und verſchwunden.“ Dem Sebaſtian gruſelte es den ganzen Rücken hinauf. Jetzt ſetzten ſich die Beiden ganz nah' zuſammen und regten ſich nicht mehr, bis daß der helle Morgen da war und es auf der Straße anfing, lebendig zu werden. Dann traten ſie zuſammen hinaus, machten die weit offen ſtehende Haus¬ thüre zu und ſtiegen dann hinauf, um Fräulein Rotten¬ meier Bericht zu erſtatten über das Erlebte. Die Dame war auch ſchon zu ſprechen, denn die Erwartung der zu vernehmenden Dinge hatte ſie nicht mehr ſchlafen laſſen. Sobald ſie nun vernommen hatte, was vorgefallen war, ſetzte ſie ſich hin und ſchrieb einen Brief an Herrn Seſe¬ mann, wie er noch keinen erhalten hatte: er möge ſich nur ſogleich, ohne Verzug, aufmachen und nach Hauſe zurück¬ kehren, denn da geſchähen unerhörte Dinge. Dann wurde ihm das Vorgefallene mitgetheilt, ſo wie auch die Nach¬ richt, daß fortgeſetzt die Thüre jeden Morgen offen ſtehe; daß alſo Keiner im Hauſe ſeines Lebens mehr ſicher ſei bei dergeſtalt allnächtlich offen ſtehender Hauspforte und daß man überhaupt nicht abſehen könne, was für dunkle Folgen dieſer 12*

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/189>, abgerufen am 23.11.2024.