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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette
ihrerseits machte es pünktlich ebenso; hatte sie oben oder
unten irgend ein Geschäft abzuthun, so rief sie den Se¬
bastian herbei und sagte ihm, er habe sie zu begleiten,
es möchte Etwas herbeizubringen sein, das sie nicht allein
tragen könnte. Wunderbarerweise that auch Sebastian akurat
dasselbe; wurde er in die abgelegenen Räume geschickt, so
holte er den Johann herauf und wies ihn an, ihn zu be¬
gleiten, im Fall er nicht herbeischaffen könnte, was erforder¬
lich sei. Und Jedes folgte immer ganz willig dem Ruf,
obschon eigentlich nie Etwas herbeizutragen war, so daß
Jedes gut hätte allein gehen können, aber es war so, als
denke der Herbeigerufene immer bei sich, er könne den An¬
dern auch bald für denselben Dienst nöthig haben. Während
sich Solches oben zutrug, stand unten die langjährige Köchin
tiefsinnig bei ihren Töpfen und schüttelte den Kopf und
seufzte: "Daß ich das noch erleben mußte!"

Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas
ganz Seltsames und Unheimliches vor. Jeden Morgen,
wenn die Dienerschaft herunter kam, stand die Hausthüre
weit offen; aber weit und breit war Niemand zu sehen, der
mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen konnte.
In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich
mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauses durch¬
sucht, um zu sehen, was Alles gestohlen sei, denn man
dachte, ein Dieb habe sich im Hause verstecken können und

dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette
ihrerſeits machte es pünktlich ebenſo; hatte ſie oben oder
unten irgend ein Geſchäft abzuthun, ſo rief ſie den Se¬
baſtian herbei und ſagte ihm, er habe ſie zu begleiten,
es möchte Etwas herbeizubringen ſein, das ſie nicht allein
tragen könnte. Wunderbarerweiſe that auch Sebaſtian akurat
dasſelbe; wurde er in die abgelegenen Räume geſchickt, ſo
holte er den Johann herauf und wies ihn an, ihn zu be¬
gleiten, im Fall er nicht herbeiſchaffen könnte, was erforder¬
lich ſei. Und Jedes folgte immer ganz willig dem Ruf,
obſchon eigentlich nie Etwas herbeizutragen war, ſo daß
Jedes gut hätte allein gehen können, aber es war ſo, als
denke der Herbeigerufene immer bei ſich, er könne den An¬
dern auch bald für denſelben Dienſt nöthig haben. Während
ſich Solches oben zutrug, ſtand unten die langjährige Köchin
tiefſinnig bei ihren Töpfen und ſchüttelte den Kopf und
ſeufzte: „Daß ich das noch erleben mußte!“

Es ging im Hauſe Seſemann ſeit einiger Zeit etwas
ganz Seltſames und Unheimliches vor. Jeden Morgen,
wenn die Dienerſchaft herunter kam, ſtand die Hausthüre
weit offen; aber weit und breit war Niemand zu ſehen, der
mit dieſer Erſcheinung im Zuſammenhang ſtehen konnte.
In den erſten Tagen, da dies geſchehen war, wurden gleich
mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauſes durch¬
ſucht, um zu ſehen, was Alles geſtohlen ſei, denn man
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[176/0186] dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette ihrerſeits machte es pünktlich ebenſo; hatte ſie oben oder unten irgend ein Geſchäft abzuthun, ſo rief ſie den Se¬ baſtian herbei und ſagte ihm, er habe ſie zu begleiten, es möchte Etwas herbeizubringen ſein, das ſie nicht allein tragen könnte. Wunderbarerweiſe that auch Sebaſtian akurat dasſelbe; wurde er in die abgelegenen Räume geſchickt, ſo holte er den Johann herauf und wies ihn an, ihn zu be¬ gleiten, im Fall er nicht herbeiſchaffen könnte, was erforder¬ lich ſei. Und Jedes folgte immer ganz willig dem Ruf, obſchon eigentlich nie Etwas herbeizutragen war, ſo daß Jedes gut hätte allein gehen können, aber es war ſo, als denke der Herbeigerufene immer bei ſich, er könne den An¬ dern auch bald für denſelben Dienſt nöthig haben. Während ſich Solches oben zutrug, ſtand unten die langjährige Köchin tiefſinnig bei ihren Töpfen und ſchüttelte den Kopf und ſeufzte: „Daß ich das noch erleben mußte!“ Es ging im Hauſe Seſemann ſeit einiger Zeit etwas ganz Seltſames und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerſchaft herunter kam, ſtand die Hausthüre weit offen; aber weit und breit war Niemand zu ſehen, der mit dieſer Erſcheinung im Zuſammenhang ſtehen konnte. In den erſten Tagen, da dies geſchehen war, wurden gleich mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauſes durch¬ ſucht, um zu ſehen, was Alles geſtohlen ſei, denn man dachte, ein Dieb habe ſich im Hauſe verſtecken können und

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/186>, abgerufen am 23.11.2024.