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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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gegangene hätte werfen können, denn nach allen Voraus¬
setzungen mußte angenommen werden, daß es eine völlige
Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich geschehen
ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat, gleich¬
sam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden --"

"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr
Candidat?" setzte hier Frau Sesemann ein.

In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr
die Dame an.

"Es ist ja wirklich völlig wunderbar", sagte er endlich,
"nicht nur, daß das junge Mädchen nach all' meinen gründ¬
lichen Erklärungen und ungewöhnlichen Bemühungen das
ABC nicht erlernt hat, sondern auch und besonders, daß
es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich mich entschlossen hatte,
das Unerreichbare aus den Augen zu lassen und ohne alle
weitergreifenden Erläuterungen nur noch sozusagen die
nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu
bringen, sozusagen über Nacht das Lesen erfaßt hat, und
dazu sogleich mit einer Correktheit der Worte liest, wie
mir bei Anfängern noch selten vorgekommen ist. Fast ebenso
wunderbar aber ist mir die Wahrnehmung, daß die gnädige
Frau gerade diese fernliegende Thatsache als Möglichkeit
vermuthete."

"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschen¬
leben", bestätigte Frau Sesemann und lächelte vergnüglich;
"es können auch einmal zwei Dinge glücklich zusammen¬

gegangene hätte werfen können, denn nach allen Voraus¬
ſetzungen mußte angenommen werden, daß es eine völlige
Unmöglichkeit ſein müſſe, was dennoch jetzt wirklich geſchehen
iſt und in der wunderbarſten Weiſe ſtattgefunden hat, gleich¬
ſam im Gegenſatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden —“

„Sollte das Kind Heidi etwa leſen gelernt haben, Herr
Candidat?“ ſetzte hier Frau Seſemann ein.

In ſprachloſem Erſtaunen ſchaute der überraſchte Herr
die Dame an.

„Es iſt ja wirklich völlig wunderbar“, ſagte er endlich,
„nicht nur, daß das junge Mädchen nach all' meinen gründ¬
lichen Erklärungen und ungewöhnlichen Bemühungen das
ABC nicht erlernt hat, ſondern auch und beſonders, daß
es jetzt in kürzeſter Zeit, nachdem ich mich entſchloſſen hatte,
das Unerreichbare aus den Augen zu laſſen und ohne alle
weitergreifenden Erläuterungen nur noch ſozuſagen die
nackten Buchſtaben vor die Augen des jungen Mädchens zu
bringen, ſozuſagen über Nacht das Leſen erfaßt hat, und
dazu ſogleich mit einer Correktheit der Worte liest, wie
mir bei Anfängern noch ſelten vorgekommen iſt. Faſt ebenſo
wunderbar aber iſt mir die Wahrnehmung, daß die gnädige
Frau gerade dieſe fernliegende Thatſache als Möglichkeit
vermuthete.“

„Es geſchehen viele wunderbare Dinge im Menſchen¬
leben“, beſtätigte Frau Seſemann und lächelte vergnüglich;
„es können auch einmal zwei Dinge glücklich zuſammen¬

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[162/0172] gegangene hätte werfen können, denn nach allen Voraus¬ ſetzungen mußte angenommen werden, daß es eine völlige Unmöglichkeit ſein müſſe, was dennoch jetzt wirklich geſchehen iſt und in der wunderbarſten Weiſe ſtattgefunden hat, gleich¬ ſam im Gegenſatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden —“ „Sollte das Kind Heidi etwa leſen gelernt haben, Herr Candidat?“ ſetzte hier Frau Seſemann ein. In ſprachloſem Erſtaunen ſchaute der überraſchte Herr die Dame an. „Es iſt ja wirklich völlig wunderbar“, ſagte er endlich, „nicht nur, daß das junge Mädchen nach all' meinen gründ¬ lichen Erklärungen und ungewöhnlichen Bemühungen das ABC nicht erlernt hat, ſondern auch und beſonders, daß es jetzt in kürzeſter Zeit, nachdem ich mich entſchloſſen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu laſſen und ohne alle weitergreifenden Erläuterungen nur noch ſozuſagen die nackten Buchſtaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen, ſozuſagen über Nacht das Leſen erfaßt hat, und dazu ſogleich mit einer Correktheit der Worte liest, wie mir bei Anfängern noch ſelten vorgekommen iſt. Faſt ebenſo wunderbar aber iſt mir die Wahrnehmung, daß die gnädige Frau gerade dieſe fernliegende Thatſache als Möglichkeit vermuthete.“ „Es geſchehen viele wunderbare Dinge im Menſchen¬ leben“, beſtätigte Frau Seſemann und lächelte vergnüglich; „es können auch einmal zwei Dinge glücklich zuſammen¬

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/172>, abgerufen am 27.11.2024.