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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

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"Wie so?" fragte Herr Sesemann und trank in aller
Ruhe einen Schluck Wein.

"Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sese¬
mann, eine Gespielin für Klara in's Haus zu nehmen, und
da ich ja weiß, wie sehr Sie darauf halten, daß nur Gutes
und Edles Ihre Tochter umgebe, hatte ich meinen Sinn
auf ein junges Schweizermädchen gerichtet, indem ich hoffte,
eines jener Wesen bei uns eintreten zu sehen, von denen
ich schon so oft gelesen, welche, der reinen Bergluft ent¬
sprossen, sozusagen ohne die Erde zu berühren, durch das
Leben gehen."

"Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann,
"daß auch die Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn
sie vorwärts kommen wollen, sonst wären ihnen wohl Flügel
gewachsen statt der Füße."

"Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl",
fuhr das Fräulein fort, "ich meinte eine jener so be¬
kannten, in den hohen, reinen Bergregionen lebenden Ge¬
stalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns vorüber¬
ziehn."

"Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch
anfangen, Fräulein Rottenmeier?"

"Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist
mir ernster, als Sie denken, ich bin schrecklich, wirklich ganz
erschrecklich getäuscht worden."

"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar

„Wie ſo?“ fragte Herr Seſemann und trank in aller
Ruhe einen Schluck Wein.

„Wir hatten ja beſchloſſen, wie Sie wiſſen, Herr Seſe¬
mann, eine Geſpielin für Klara in's Haus zu nehmen, und
da ich ja weiß, wie ſehr Sie darauf halten, daß nur Gutes
und Edles Ihre Tochter umgebe, hatte ich meinen Sinn
auf ein junges Schweizermädchen gerichtet, indem ich hoffte,
eines jener Weſen bei uns eintreten zu ſehen, von denen
ich ſchon ſo oft geleſen, welche, der reinen Bergluft ent¬
ſproſſen, ſozuſagen ohne die Erde zu berühren, durch das
Leben gehen.“

„Ich glaube zwar“, bemerkte hier Herr Seſemann,
„daß auch die Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn
ſie vorwärts kommen wollen, ſonſt wären ihnen wohl Flügel
gewachſen ſtatt der Füße.“

„Ach, Herr Seſemann, Sie verſtehen mich wohl“,
fuhr das Fräulein fort, „ich meinte eine jener ſo be¬
kannten, in den hohen, reinen Bergregionen lebenden Ge¬
ſtalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns vorüber¬
ziehn.“

„Was ſollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch
anfangen, Fräulein Rottenmeier?“

„Nein, Herr Seſemann, ich ſcherze nicht, die Sache iſt
mir ernſter, als Sie denken, ich bin ſchrecklich, wirklich ganz
erſchrecklich getäuſcht worden.“

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[142/0152] „Wie ſo?“ fragte Herr Seſemann und trank in aller Ruhe einen Schluck Wein. „Wir hatten ja beſchloſſen, wie Sie wiſſen, Herr Seſe¬ mann, eine Geſpielin für Klara in's Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie ſehr Sie darauf halten, daß nur Gutes und Edles Ihre Tochter umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Weſen bei uns eintreten zu ſehen, von denen ich ſchon ſo oft geleſen, welche, der reinen Bergluft ent¬ ſproſſen, ſozuſagen ohne die Erde zu berühren, durch das Leben gehen.“ „Ich glaube zwar“, bemerkte hier Herr Seſemann, „daß auch die Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn ſie vorwärts kommen wollen, ſonſt wären ihnen wohl Flügel gewachſen ſtatt der Füße.“ „Ach, Herr Seſemann, Sie verſtehen mich wohl“, fuhr das Fräulein fort, „ich meinte eine jener ſo be¬ kannten, in den hohen, reinen Bergregionen lebenden Ge¬ ſtalten, die nur wie ein idealer Hauch an uns vorüber¬ ziehn.“ „Was ſollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen, Fräulein Rottenmeier?“ „Nein, Herr Seſemann, ich ſcherze nicht, die Sache iſt mir ernſter, als Sie denken, ich bin ſchrecklich, wirklich ganz erſchrecklich getäuſcht worden.“ „Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar

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Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/152>, abgerufen am 27.11.2024.