Heidi eines Tages es nicht mehr aushielt; es packte in aller Eile seine Brödchen in das große rothe Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf und zog aus. Aber schon unter der Hausthüre traf es auf ein großes Reisehinderniß, auf Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang zurückkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Er¬ staunen Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem gefüllten rothen Halstuch haften. Jetzt brach sie los.
"Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das über¬ haupt? Habe ich dir nicht streng verboten, je wieder herum¬ zustreichen? Nun probirst du's doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine Landstreicherin."
"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heim¬ gehen", entgegnete Heidi ein wenig erschrocken.
"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fräulein Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Auf¬ regung. "Fortlaufen! Wenn das Herr Sesemann wüßte! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach' nicht, daß er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du verdienst? Fehlt es dir an irgend Etwas? Hast du je in deinem ganzen Leben eine Wohnung, oder einen Tisch, oder eine Bedienung ge¬ habt, wie du hier hast? sag'!"
"Nein", entgegnete Heidi.
"Das weiß ich wohl!" fuhr die Dame eifrig fort,
Heidi eines Tages es nicht mehr aushielt; es packte in aller Eile ſeine Brödchen in das große rothe Halstuch zuſammen, ſetzte ſein Strohhütchen auf und zog aus. Aber ſchon unter der Hausthüre traf es auf ein großes Reiſehinderniß, auf Fräulein Rottenmeier ſelbſt, die eben von einem Ausgang zurückkehrte. Sie ſtand ſtill und ſchaute in ſtarrem Er¬ ſtaunen Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem gefüllten rothen Halstuch haften. Jetzt brach ſie los.
„Was iſt das für ein Aufzug? Was heißt das über¬ haupt? Habe ich dir nicht ſtreng verboten, je wieder herum¬ zuſtreichen? Nun probirſt du's doch wieder und dazu noch völlig ausſehend wie eine Landſtreicherin.“
„Ich wollte nicht herumſtreichen, ich wollte nur heim¬ gehen“, entgegnete Heidi ein wenig erſchrocken.
„Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wollteſt du?“ Fräulein Rottenmeier ſchlug die Hände zuſammen vor Auf¬ regung. „Fortlaufen! Wenn das Herr Seſemann wüßte! Fortlaufen aus ſeinem Hauſe! Mach' nicht, daß er das je erfährt! Und was iſt dir denn nicht recht in ſeinem Hauſe? Wirſt du nicht viel beſſer behandelt, als du verdienſt? Fehlt es dir an irgend Etwas? Haſt du je in deinem ganzen Leben eine Wohnung, oder einen Tiſch, oder eine Bedienung ge¬ habt, wie du hier haſt? ſag'!“
„Nein“, entgegnete Heidi.
„Das weiß ich wohl!“ fuhr die Dame eifrig fort,
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Heidi eines Tages es nicht mehr aushielt; es packte in aller
Eile ſeine Brödchen in das große rothe Halstuch zuſammen,
ſetzte ſein Strohhütchen auf und zog aus. Aber ſchon unter
der Hausthüre traf es auf ein großes Reiſehinderniß, auf
Fräulein Rottenmeier ſelbſt, die eben von einem Ausgang
zurückkehrte. Sie ſtand ſtill und ſchaute in ſtarrem Er¬
ſtaunen Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb
vorzüglich auf dem gefüllten rothen Halstuch haften. Jetzt
brach ſie los.
„Was iſt das für ein Aufzug? Was heißt das über¬
haupt? Habe ich dir nicht ſtreng verboten, je wieder herum¬
zuſtreichen? Nun probirſt du's doch wieder und dazu noch
völlig ausſehend wie eine Landſtreicherin.“
„Ich wollte nicht herumſtreichen, ich wollte nur heim¬
gehen“, entgegnete Heidi ein wenig erſchrocken.
„Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wollteſt du?“
Fräulein Rottenmeier ſchlug die Hände zuſammen vor Auf¬
regung. „Fortlaufen! Wenn das Herr Seſemann wüßte!
Fortlaufen aus ſeinem Hauſe! Mach' nicht, daß er das je
erfährt! Und was iſt dir denn nicht recht in ſeinem Hauſe?
Wirſt du nicht viel beſſer behandelt, als du verdienſt? Fehlt
es dir an irgend Etwas? Haſt du je in deinem ganzen Leben
eine Wohnung, oder einen Tiſch, oder eine Bedienung ge¬
habt, wie du hier haſt? ſag'!“
„Nein“, entgegnete Heidi.
„Das weiß ich wohl!“ fuhr die Dame eifrig fort,
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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/143>, abgerufen am 01.07.2024.
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