Sebastian und Tinette sich entfernen sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klara's Sessel stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.
"Adelheid", begann sie mit strengem Ton, "ich weiß nur Eine Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin; aber wir wollen sehen, ob du unten im dunkeln Keller bei Molchen und Ratten nicht zahm wirst, daß du dir keine solchen Dinge mehr einfallen lässest."
Heidi hörte still und verwundert sein Urtheil an, denn in einem schreckhaften Keller war es noch nie gewesen; der anstoßende Raum in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die fertigen Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein anmuthiger und einladen¬ der Ort, und Ratten und Molche hatte es noch keine ge¬ sehen.
Aber Klara erhob einen lauten Jammer: "Nein, nein, Fräulein Rottenmeier, man muß warten, bis der Papa da ist; er hat ja geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm Alles erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll."
Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier Nichts einwenden, um so weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war. Sie stand auf und sagte etwas grimmig: "Gut, Klara, gut, aber auch ich werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen." Damit verließ sie das Zimmer. --
Es verflossen nun ein paar ungestörtere Tage, aber
Sebaſtian und Tinette ſich entfernen ſollten. Jetzt wandte ſie ſich an Heidi, das neben Klara's Seſſel ſtand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.
„Adelheid“, begann ſie mit ſtrengem Ton, „ich weiß nur Eine Strafe, die dir empfindlich ſein könnte, denn du biſt eine Barbarin; aber wir wollen ſehen, ob du unten im dunkeln Keller bei Molchen und Ratten nicht zahm wirſt, daß du dir keine ſolchen Dinge mehr einfallen läſſeſt.“
Heidi hörte ſtill und verwundert ſein Urtheil an, denn in einem ſchreckhaften Keller war es noch nie geweſen; der anſtoßende Raum in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die fertigen Käſe lagen und die friſche Milch ſtand, war eher ein anmuthiger und einladen¬ der Ort, und Ratten und Molche hatte es noch keine ge¬ ſehen.
Aber Klara erhob einen lauten Jammer: „Nein, nein, Fräulein Rottenmeier, man muß warten, bis der Papa da iſt; er hat ja geſchrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm Alles erzählen, und er ſagt dann ſchon, was mit Heidi geſchehen ſoll.“
Gegen dieſen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier Nichts einwenden, um ſo weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war. Sie ſtand auf und ſagte etwas grimmig: „Gut, Klara, gut, aber auch ich werde ein Wort mit Herrn Seſemann ſprechen.“ Damit verließ ſie das Zimmer. —
Es verfloſſen nun ein paar ungeſtörtere Tage, aber
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Sebaſtian und Tinette ſich entfernen ſollten. Jetzt wandte
ſie ſich an Heidi, das neben Klara's Seſſel ſtand und nicht
recht begriff, was es verbrochen hatte.
„Adelheid“, begann ſie mit ſtrengem Ton, „ich weiß
nur Eine Strafe, die dir empfindlich ſein könnte, denn du
biſt eine Barbarin; aber wir wollen ſehen, ob du unten
im dunkeln Keller bei Molchen und Ratten nicht zahm wirſt,
daß du dir keine ſolchen Dinge mehr einfallen läſſeſt.“
Heidi hörte ſtill und verwundert ſein Urtheil an, denn
in einem ſchreckhaften Keller war es noch nie geweſen; der
anſtoßende Raum in der Almhütte, den der Großvater
Keller nannte, wo immer die fertigen Käſe lagen und die
friſche Milch ſtand, war eher ein anmuthiger und einladen¬
der Ort, und Ratten und Molche hatte es noch keine ge¬
ſehen.
Aber Klara erhob einen lauten Jammer: „Nein, nein,
Fräulein Rottenmeier, man muß warten, bis der Papa da
iſt; er hat ja geſchrieben, er komme nun bald, und dann
will ich ihm Alles erzählen, und er ſagt dann ſchon, was
mit Heidi geſchehen ſoll.“
Gegen dieſen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier
Nichts einwenden, um ſo weniger, da er wirklich in Bälde
zu erwarten war. Sie ſtand auf und ſagte etwas grimmig:
„Gut, Klara, gut, aber auch ich werde ein Wort mit Herrn
Seſemann ſprechen.“ Damit verließ ſie das Zimmer. —
Es verfloſſen nun ein paar ungeſtörtere Tage, aber
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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/140>, abgerufen am 25.07.2024.
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