"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr Candidat? wenn er doch mit mir selbst sprechen muß."
Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rotten¬ meier hatte, um dem ABC auszuweichen, sich im Eßzimmer Allerlei zu schaffen gemacht. Auf einmal horchte sie auf. -- Kamen die Töne von der Straße her? Aber so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel er¬ tönen? Und dennoch -- wahrhaftig -- sie stürzte durch das lange Eßzimmer und riß die Thüre auf. Da -- un¬ glaublich -- da stand mitten im Studierzimmer ein zer¬ lumpter Orgelspieler und drehte sein Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Candidat schien immerfort Etwas sagen zu wollen, aber es wurde Nichts vernommen. Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Mu¬ sik zu.
"Aufhören! Sofort aufhören!" rief Fräulein Rotten¬ meier in's Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie auf den Jungen zu -- aber auf einmal hatte sie Etwas zwischen den Füßen, sie sah auf den Boden -- ein grausiges, schwarzes Thier kroch ihr zwischen den Füßen durch, eine Schildkröte. Jetzt that Fräu¬ lein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen Jahren keinen gethan hatte, dann schrie sie aus Leibes¬ kräften: "Sebastian! Sebastian!"
„Er ſoll nur gleich hereinkommen“, ſagte ſie, „nicht wahr, Herr Candidat? wenn er doch mit mir ſelbſt ſprechen muß.“
Der Junge war ſchon eingetreten, und nach Anweiſung fing er ſofort ſeine Orgel zu drehen an. Fräulein Rotten¬ meier hatte, um dem ABC auszuweichen, ſich im Eßzimmer Allerlei zu ſchaffen gemacht. Auf einmal horchte ſie auf. — Kamen die Töne von der Straße her? Aber ſo nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel er¬ tönen? Und dennoch — wahrhaftig — ſie ſtürzte durch das lange Eßzimmer und riß die Thüre auf. Da — un¬ glaublich — da ſtand mitten im Studierzimmer ein zer¬ lumpter Orgelſpieler und drehte ſein Inſtrument mit größter Emſigkeit. Der Herr Candidat ſchien immerfort Etwas ſagen zu wollen, aber es wurde Nichts vernommen. Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Geſichtern der Mu¬ ſik zu.
„Aufhören! Sofort aufhören!“ rief Fräulein Rotten¬ meier in's Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Muſik. Jetzt lief ſie auf den Jungen zu — aber auf einmal hatte ſie Etwas zwiſchen den Füßen, ſie ſah auf den Boden — ein grauſiges, ſchwarzes Thier kroch ihr zwiſchen den Füßen durch, eine Schildkröte. Jetzt that Fräu¬ lein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie ſie ſeit vielen Jahren keinen gethan hatte, dann ſchrie ſie aus Leibes¬ kräften: „Sebaſtian! Sebaſtian!“
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„Er ſoll nur gleich hereinkommen“, ſagte ſie, „nicht
wahr, Herr Candidat? wenn er doch mit mir ſelbſt ſprechen
muß.“
Der Junge war ſchon eingetreten, und nach Anweiſung
fing er ſofort ſeine Orgel zu drehen an. Fräulein Rotten¬
meier hatte, um dem ABC auszuweichen, ſich im Eßzimmer
Allerlei zu ſchaffen gemacht. Auf einmal horchte ſie auf. —
Kamen die Töne von der Straße her? Aber ſo nahe?
Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel er¬
tönen? Und dennoch — wahrhaftig — ſie ſtürzte durch
das lange Eßzimmer und riß die Thüre auf. Da — un¬
glaublich — da ſtand mitten im Studierzimmer ein zer¬
lumpter Orgelſpieler und drehte ſein Inſtrument mit größter
Emſigkeit. Der Herr Candidat ſchien immerfort Etwas
ſagen zu wollen, aber es wurde Nichts vernommen. Klara
und Heidi hörten mit ganz erfreuten Geſichtern der Mu¬
ſik zu.
„Aufhören! Sofort aufhören!“ rief Fräulein Rotten¬
meier in's Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde übertönt
von der Muſik. Jetzt lief ſie auf den Jungen zu — aber
auf einmal hatte ſie Etwas zwiſchen den Füßen, ſie ſah auf
den Boden — ein grauſiges, ſchwarzes Thier kroch ihr
zwiſchen den Füßen durch, eine Schildkröte. Jetzt that Fräu¬
lein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie ſie ſeit
vielen Jahren keinen gethan hatte, dann ſchrie ſie aus Leibes¬
kräften: „Sebaſtian! Sebaſtian!“
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Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/136>, abgerufen am 26.06.2024.
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