Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880.

Bild:
<< vorherige Seite

Fräulein Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, in's
Studierzimmer, denn sie mußte sich erst aussprechen und
geleitete ihn zu diesem Zweck in's Eßzimmer, wo sie sich
vor ihn hinsetzte und ihm in großer Aufregung ihre be¬
drängte Lage schilderte und wie sie in diese hineingekommen
war.

Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Sesemann
nach Paris geschrieben, wo er eben verweilte, seine Tochter
habe längst gewünscht, es möchte eine Gespielin für sie in's
Haus aufgenommen werden, und auch sie selbst glaube, daß
eine solche in den Unterrichtsstunden ein Sporn, in der
übrigen Zeit eine anregende Gesellschaft für Klara sein
würde. Eigentlich war die Sache für Fräulein Rottenmeier
selbst sehr wünschbar, denn sie wollte gern, daß Jemand da
sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara abnehme,
wenn es ihr zu viel war, was öfters geschah. Herr Sese¬
mann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunsch seiner
Tochter, doch mit der Bedingung, daß eine solche Gespielin
in Allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine
Kinderquälerei in seinem Hause, was freilich eine sehr un¬
nütze Bemerkung von dem Herrn war, setzte Fräulein Rotten¬
meier hinzu, denn wer wollte Kinder quälen! Nun aber
erzählte sie weiter, wie ganz erschrecklich sie hineingefallen sei
mit dem Kinde, und führte alle Beispiele von seinem völlig be¬
griffslosen Dasein an, die es bis jetzt geliefert hatte, daß nicht
nur der Unterricht des Herrn Candidaten buchstäblich beim

Fräulein Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, in's
Studierzimmer, denn ſie mußte ſich erſt ausſprechen und
geleitete ihn zu dieſem Zweck in's Eßzimmer, wo ſie ſich
vor ihn hinſetzte und ihm in großer Aufregung ihre be¬
drängte Lage ſchilderte und wie ſie in dieſe hineingekommen
war.

Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Seſemann
nach Paris geſchrieben, wo er eben verweilte, ſeine Tochter
habe längſt gewünſcht, es möchte eine Geſpielin für ſie in's
Haus aufgenommen werden, und auch ſie ſelbſt glaube, daß
eine ſolche in den Unterrichtsſtunden ein Sporn, in der
übrigen Zeit eine anregende Geſellſchaft für Klara ſein
würde. Eigentlich war die Sache für Fräulein Rottenmeier
ſelbſt ſehr wünſchbar, denn ſie wollte gern, daß Jemand da
ſei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara abnehme,
wenn es ihr zu viel war, was öfters geſchah. Herr Seſe¬
mann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunſch ſeiner
Tochter, doch mit der Bedingung, daß eine ſolche Geſpielin
in Allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine
Kinderquälerei in ſeinem Hauſe, was freilich eine ſehr un¬
nütze Bemerkung von dem Herrn war, ſetzte Fräulein Rotten¬
meier hinzu, denn wer wollte Kinder quälen! Nun aber
erzählte ſie weiter, wie ganz erſchrecklich ſie hineingefallen ſei
mit dem Kinde, und führte alle Beiſpiele von ſeinem völlig be¬
griffsloſen Daſein an, die es bis jetzt geliefert hatte, daß nicht
nur der Unterricht des Herrn Candidaten buchſtäblich beim

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0116" n="106"/>
Fräulein Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, in's<lb/>
Studierzimmer, denn &#x017F;ie mußte &#x017F;ich er&#x017F;t aus&#x017F;prechen und<lb/>
geleitete ihn zu die&#x017F;em Zweck in's Eßzimmer, wo &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
vor ihn hin&#x017F;etzte und ihm in großer Aufregung ihre be¬<lb/>
drängte Lage &#x017F;childerte und wie &#x017F;ie in die&#x017F;e hineingekommen<lb/>
war.</p><lb/>
        <p>Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Se&#x017F;emann<lb/>
nach Paris ge&#x017F;chrieben, wo er eben verweilte, &#x017F;eine Tochter<lb/>
habe läng&#x017F;t gewün&#x017F;cht, es möchte eine Ge&#x017F;pielin für &#x017F;ie in's<lb/>
Haus aufgenommen werden, und auch &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t glaube, daß<lb/>
eine &#x017F;olche in den Unterrichts&#x017F;tunden ein Sporn, in der<lb/>
übrigen Zeit eine anregende Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft für Klara &#x017F;ein<lb/>
würde. Eigentlich war die Sache für Fräulein Rottenmeier<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ehr wün&#x017F;chbar, denn &#x017F;ie wollte gern, daß Jemand da<lb/>
&#x017F;ei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara abnehme,<lb/>
wenn es ihr zu viel war, was öfters ge&#x017F;chah. Herr Se&#x017F;<lb/>
mann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wun&#x017F;ch &#x017F;einer<lb/>
Tochter, doch mit der Bedingung, daß eine &#x017F;olche Ge&#x017F;pielin<lb/>
in Allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine<lb/>
Kinderquälerei in &#x017F;einem Hau&#x017F;e, was freilich eine &#x017F;ehr un¬<lb/>
nütze Bemerkung von dem Herrn war, &#x017F;etzte Fräulein Rotten¬<lb/>
meier hinzu, denn wer wollte Kinder quälen! Nun aber<lb/>
erzählte &#x017F;ie weiter, wie ganz er&#x017F;chrecklich &#x017F;ie hineingefallen &#x017F;ei<lb/>
mit dem Kinde, und führte alle Bei&#x017F;piele von &#x017F;einem völlig be¬<lb/>
griffslo&#x017F;en Da&#x017F;ein an, die es bis jetzt geliefert hatte, daß nicht<lb/>
nur der Unterricht des Herrn Candidaten buch&#x017F;täblich beim<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[106/0116] Fräulein Rottenmeier führte ihn nicht, wie gewöhnlich, in's Studierzimmer, denn ſie mußte ſich erſt ausſprechen und geleitete ihn zu dieſem Zweck in's Eßzimmer, wo ſie ſich vor ihn hinſetzte und ihm in großer Aufregung ihre be¬ drängte Lage ſchilderte und wie ſie in dieſe hineingekommen war. Sie hatte nämlich vor einiger Zeit Herrn Seſemann nach Paris geſchrieben, wo er eben verweilte, ſeine Tochter habe längſt gewünſcht, es möchte eine Geſpielin für ſie in's Haus aufgenommen werden, und auch ſie ſelbſt glaube, daß eine ſolche in den Unterrichtsſtunden ein Sporn, in der übrigen Zeit eine anregende Geſellſchaft für Klara ſein würde. Eigentlich war die Sache für Fräulein Rottenmeier ſelbſt ſehr wünſchbar, denn ſie wollte gern, daß Jemand da ſei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara abnehme, wenn es ihr zu viel war, was öfters geſchah. Herr Seſe¬ mann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunſch ſeiner Tochter, doch mit der Bedingung, daß eine ſolche Geſpielin in Allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquälerei in ſeinem Hauſe, was freilich eine ſehr un¬ nütze Bemerkung von dem Herrn war, ſetzte Fräulein Rotten¬ meier hinzu, denn wer wollte Kinder quälen! Nun aber erzählte ſie weiter, wie ganz erſchrecklich ſie hineingefallen ſei mit dem Kinde, und führte alle Beiſpiele von ſeinem völlig be¬ griffsloſen Daſein an, die es bis jetzt geliefert hatte, daß nicht nur der Unterricht des Herrn Candidaten buchſtäblich beim

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/116
Zitationshilfe: Spyri, Johanna: Heidi's Lehr- und Wanderjahre. Gotha, 1880, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spyri_heidi_1880/116>, abgerufen am 25.11.2024.