das Rad ihrer Einbildungskraft stockte, die im- mer thätige Seele konnte es nicht drehen, nicht wenden. Undank und Grausamkeit hatten sie tödlich verwundet, ihr Schmerz durchbebte jede Nerve, durchzitterte jede Faser des ver- laßnen Mädchens. Mit jedem Tropfen Blu- tes rollte der zentnerschwere Gedanke langsam durch ihre Adern, und strömte wieder hastig nach dem Herzen, um dort vergebens Raum zu suchen. Sie konnte nicht reden, kaum wanken, sie verließ das Zimmer des Advokaten, ohne es verlassen zu wollen, sie irrte in den Gassen der Stadt umher, ohne zu wissen, wohin sie gehen wolle.
Am Abende fand sie die suchende Mutter in einem Garten der entlegensten Vorstadt, sie saß im Gipfel einer hohen Linde, und breitete ihre Arme hoch zum Himmel empor. Ein kleines Mädchen, welches sie hinauf klettern sah, verrieth ihren Aufenthalt. Die Mutter
das Rad ihrer Einbildungskraft ſtockte, die im- mer thaͤtige Seele konnte es nicht drehen, nicht wenden. Undank und Grauſamkeit hatten ſie toͤdlich verwundet, ihr Schmerz durchbebte jede Nerve, durchzitterte jede Faſer des ver- laßnen Maͤdchens. Mit jedem Tropfen Blu- tes rollte der zentnerſchwere Gedanke langſam durch ihre Adern, und ſtroͤmte wieder haſtig nach dem Herzen, um dort vergebens Raum zu ſuchen. Sie konnte nicht reden, kaum wanken, ſie verließ das Zimmer des Advokaten, ohne es verlaſſen zu wollen, ſie irrte in den Gaſſen der Stadt umher, ohne zu wiſſen, wohin ſie gehen wolle.
Am Abende fand ſie die ſuchende Mutter in einem Garten der entlegenſten Vorſtadt, ſie ſaß im Gipfel einer hohen Linde, und breitete ihre Arme hoch zum Himmel empor. Ein kleines Maͤdchen, welches ſie hinauf klettern ſah, verrieth ihren Aufenthalt. Die Mutter
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0060"n="50"/>
das Rad ihrer <choice><sic>Einbildnngskraft</sic><corr>Einbildungskraft</corr></choice>ſtockte, die im-<lb/>
mer thaͤtige Seele konnte es nicht drehen,<lb/>
nicht wenden. Undank und Grauſamkeit hatten<lb/>ſie toͤdlich verwundet, ihr Schmerz durchbebte<lb/>
jede Nerve, durchzitterte jede Faſer des ver-<lb/>
laßnen Maͤdchens. Mit jedem Tropfen Blu-<lb/>
tes rollte der zentnerſchwere Gedanke langſam<lb/>
durch ihre Adern, und ſtroͤmte wieder haſtig<lb/>
nach dem Herzen, um dort vergebens Raum zu<lb/>ſuchen. Sie konnte nicht reden, kaum wanken,<lb/>ſie verließ das Zimmer des Advokaten, ohne<lb/>
es verlaſſen zu wollen, ſie irrte in den Gaſſen<lb/>
der Stadt umher, ohne zu wiſſen, wohin ſie<lb/>
gehen wolle.</p><lb/><p>Am Abende fand ſie die ſuchende Mutter<lb/>
in einem Garten der entlegenſten Vorſtadt, ſie<lb/>ſaß im Gipfel einer hohen Linde, und breitete<lb/>
ihre Arme hoch zum Himmel empor. Ein<lb/>
kleines Maͤdchen, welches ſie hinauf klettern<lb/>ſah, verrieth ihren Aufenthalt. Die Mutter<lb/></p></div></body></text></TEI>
[50/0060]
das Rad ihrer Einbildungskraft ſtockte, die im-
mer thaͤtige Seele konnte es nicht drehen,
nicht wenden. Undank und Grauſamkeit hatten
ſie toͤdlich verwundet, ihr Schmerz durchbebte
jede Nerve, durchzitterte jede Faſer des ver-
laßnen Maͤdchens. Mit jedem Tropfen Blu-
tes rollte der zentnerſchwere Gedanke langſam
durch ihre Adern, und ſtroͤmte wieder haſtig
nach dem Herzen, um dort vergebens Raum zu
ſuchen. Sie konnte nicht reden, kaum wanken,
ſie verließ das Zimmer des Advokaten, ohne
es verlaſſen zu wollen, ſie irrte in den Gaſſen
der Stadt umher, ohne zu wiſſen, wohin ſie
gehen wolle.
Am Abende fand ſie die ſuchende Mutter
in einem Garten der entlegenſten Vorſtadt, ſie
ſaß im Gipfel einer hohen Linde, und breitete
ihre Arme hoch zum Himmel empor. Ein
kleines Maͤdchen, welches ſie hinauf klettern
ſah, verrieth ihren Aufenthalt. Die Mutter
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 4. Leipzig, 1796, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien04_1796/60>, abgerufen am 09.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.