in ihrem Auge, sie öfnete ihren schönen Mund, und deutete mit der Hand darauf. Mutter kann nicht reden, sprach das Kind, hat keine Zunge! Der alte Vater schauderte zurück, alle Anwesende falteten die Hände und staunten. Lange wagte es keiner, die schreckliche Muthmassung zu prüfen; endlich nahte sich der Vogt, und sah nun deutlich, daß der unglücklichen Edeldrud die Zunge würklich zur Hälfte abgeschnitten, die Wun- de aber schon lange verheilt sei.
Des Vaters Schmerz war groß und schrecklich, er zitterte und bebte, wenn er sich das Leiden der Unglücklichen dachte; er wüthete, wenn er überlegte, daß er nicht Rache nehmen könne an dem Urheber dieser schändlichen That. Die Nacht verfloß schlaf- los, alles jammerte, alles weinte und be- dauerte das harte Schicksal der Unglücklichen.
in ihrem Auge, ſie oͤfnete ihren ſchoͤnen Mund, und deutete mit der Hand darauf. Mutter kann nicht reden, ſprach das Kind, hat keine Zunge! Der alte Vater ſchauderte zuruͤck, alle Anweſende falteten die Haͤnde und ſtaunten. Lange wagte es keiner, die ſchreckliche Muthmaſſung zu pruͤfen; endlich nahte ſich der Vogt, und ſah nun deutlich, daß der ungluͤcklichen Edeldrud die Zunge wuͤrklich zur Haͤlfte abgeſchnitten, die Wun- de aber ſchon lange verheilt ſei.
Des Vaters Schmerz war groß und ſchrecklich, er zitterte und bebte, wenn er ſich das Leiden der Ungluͤcklichen dachte; er wuͤthete, wenn er uͤberlegte, daß er nicht Rache nehmen koͤnne an dem Urheber dieſer ſchaͤndlichen That. Die Nacht verfloß ſchlaf- los, alles jammerte, alles weinte und be- dauerte das harte Schickſal der Ungluͤcklichen.
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in ihrem Auge, ſie oͤfnete ihren ſchoͤnen
Mund, und deutete mit der Hand darauf.
Mutter kann nicht reden, ſprach das Kind,
hat keine Zunge! Der alte Vater ſchauderte
zuruͤck, alle Anweſende falteten die Haͤnde
und ſtaunten. Lange wagte es keiner, die
ſchreckliche Muthmaſſung zu pruͤfen; endlich
nahte ſich der Vogt, und ſah nun deutlich,
daß der ungluͤcklichen Edeldrud die Zunge
wuͤrklich zur Haͤlfte abgeſchnitten, die Wun-
de aber ſchon lange verheilt ſei.
Des Vaters Schmerz war groß und
ſchrecklich, er zitterte und bebte, wenn er
ſich das Leiden der Ungluͤcklichen dachte; er
wuͤthete, wenn er uͤberlegte, daß er nicht
Rache nehmen koͤnne an dem Urheber dieſer
ſchaͤndlichen That. Die Nacht verfloß ſchlaf-
los, alles jammerte, alles weinte und be-
dauerte das harte Schickſal der Ungluͤcklichen.
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/328>, abgerufen am 24.11.2024.
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