Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Mein Gefühl war bei dieser Erzählung
mannigfaltig und schmerzhaft. Mein Ohr
horchte, mein Auge beobachtete die Wan-
delnden, und überzeugte sich bei jeder gleich-
förmigen Bewegung, daß mein Freund Wahr-
heit spreche. Ich hätte so gerne mit den Lei-
denden gesprochen, wurde aber bald über-
zeugt, daß die Befriedigung dieser Hofnung
eine wahre Unmöglichkeit sei, denn sie achte-
ten meiner und des Arztes nicht, schienen es
gar nicht zu hören, wenn dieser sie fragte,
und wandelten stillschweigend vorüber.

Wer wagts -- wer kann das Gefühl,
die Jahre lang dauernden, immer sich ganz
gleichen Handlungen dieser Unglücklichen er-
klären? Viele geheimen Würkungen der Na-
tur liegen noch verborgen vor unserm Blicke,
wir forschen vergebens, können nur staunen
und anbeten.


Mein Gefuͤhl war bei dieſer Erzaͤhlung
mannigfaltig und ſchmerzhaft. Mein Ohr
horchte, mein Auge beobachtete die Wan-
delnden, und uͤberzeugte ſich bei jeder gleich-
foͤrmigen Bewegung, daß mein Freund Wahr-
heit ſpreche. Ich haͤtte ſo gerne mit den Lei-
denden geſprochen, wurde aber bald uͤber-
zeugt, daß die Befriedigung dieſer Hofnung
eine wahre Unmoͤglichkeit ſei, denn ſie achte-
ten meiner und des Arztes nicht, ſchienen es
gar nicht zu hoͤren, wenn dieſer ſie fragte,
und wandelten ſtillſchweigend voruͤber.

Wer wagts — wer kann das Gefuͤhl,
die Jahre lang dauernden, immer ſich ganz
gleichen Handlungen dieſer Ungluͤcklichen er-
klaͤren? Viele geheimen Wuͤrkungen der Na-
tur liegen noch verborgen vor unſerm Blicke,
wir forſchen vergebens, koͤnnen nur ſtaunen
und anbeten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0236" n="222"/>
        <p>Mein Gefu&#x0364;hl war bei die&#x017F;er Erza&#x0364;hlung<lb/>
mannigfaltig und &#x017F;chmerzhaft. Mein Ohr<lb/>
horchte, mein Auge beobachtete die Wan-<lb/>
delnden, und u&#x0364;berzeugte &#x017F;ich bei jeder gleich-<lb/>
fo&#x0364;rmigen Bewegung, daß mein Freund Wahr-<lb/>
heit &#x017F;preche. Ich ha&#x0364;tte &#x017F;o gerne mit den Lei-<lb/>
denden ge&#x017F;prochen, wurde aber bald u&#x0364;ber-<lb/>
zeugt, daß die Befriedigung die&#x017F;er Hofnung<lb/>
eine wahre Unmo&#x0364;glichkeit &#x017F;ei, denn &#x017F;ie achte-<lb/>
ten meiner und des Arztes nicht, &#x017F;chienen es<lb/>
gar nicht zu ho&#x0364;ren, wenn die&#x017F;er &#x017F;ie fragte,<lb/>
und wandelten &#x017F;till&#x017F;chweigend voru&#x0364;ber.</p><lb/>
        <p>Wer wagts &#x2014; wer kann das Gefu&#x0364;hl,<lb/>
die Jahre lang dauernden, immer &#x017F;ich ganz<lb/>
gleichen Handlungen die&#x017F;er Unglu&#x0364;cklichen er-<lb/>
kla&#x0364;ren? Viele geheimen Wu&#x0364;rkungen der Na-<lb/>
tur liegen noch verborgen vor un&#x017F;erm Blicke,<lb/>
wir for&#x017F;chen vergebens, ko&#x0364;nnen nur &#x017F;taunen<lb/>
und anbeten.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[222/0236] Mein Gefuͤhl war bei dieſer Erzaͤhlung mannigfaltig und ſchmerzhaft. Mein Ohr horchte, mein Auge beobachtete die Wan- delnden, und uͤberzeugte ſich bei jeder gleich- foͤrmigen Bewegung, daß mein Freund Wahr- heit ſpreche. Ich haͤtte ſo gerne mit den Lei- denden geſprochen, wurde aber bald uͤber- zeugt, daß die Befriedigung dieſer Hofnung eine wahre Unmoͤglichkeit ſei, denn ſie achte- ten meiner und des Arztes nicht, ſchienen es gar nicht zu hoͤren, wenn dieſer ſie fragte, und wandelten ſtillſchweigend voruͤber. Wer wagts — wer kann das Gefuͤhl, die Jahre lang dauernden, immer ſich ganz gleichen Handlungen dieſer Ungluͤcklichen er- klaͤren? Viele geheimen Wuͤrkungen der Na- tur liegen noch verborgen vor unſerm Blicke, wir forſchen vergebens, koͤnnen nur ſtaunen und anbeten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/236
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/236>, abgerufen am 24.11.2024.