Amalie lehnte sich zitternd an den Stamm einer Linde, sie liebte zum erstenmale, liebte heiß und zärtlich, hatte sich unendliche Won- ne und Freude im Arme des Geliebten ge- träumt, sah sie itzt mit einmal schwinden, Kummer und Schmerz sich nahen. Hätte sie in diesem Augenblicke die Strasse gekannt, auf welcher ihr Geliebter wandelte, sie wür- de Vater und Mutter verlassen, Unglück und Elend willig mit ihm getheilt haben. So groß, so unumschränkt ist die Macht der Lie- be, wenn einmal das Herz sich ihr geöfnet, die Vernunft ihr die Zügel überlassen hat! Darum, liebes Mädchen, hüte dich, zu lie- ben, ehe du überzeugt bist: ob du ohne Hinderniß lieben kannst? Denn bist du ein- mal hingesunken in die Arme des Geliebten, hast du geküßt seinen Mund, gehört seine Schwüre, so rettet dich nichts mehr, du bist fest an ihn gekettet, sinkst und fällst mit ihm
Biogr. d. W. 3. B. G
Amalie lehnte ſich zitternd an den Stamm einer Linde, ſie liebte zum erſtenmale, liebte heiß und zaͤrtlich, hatte ſich unendliche Won- ne und Freude im Arme des Geliebten ge- traͤumt, ſah ſie itzt mit einmal ſchwinden, Kummer und Schmerz ſich nahen. Haͤtte ſie in dieſem Augenblicke die Straſſe gekannt, auf welcher ihr Geliebter wandelte, ſie wuͤr- de Vater und Mutter verlaſſen, Ungluͤck und Elend willig mit ihm getheilt haben. So groß, ſo unumſchraͤnkt iſt die Macht der Lie- be, wenn einmal das Herz ſich ihr geoͤfnet, die Vernunft ihr die Zuͤgel uͤberlaſſen hat! Darum, liebes Maͤdchen, huͤte dich, zu lie- ben, ehe du uͤberzeugt biſt: ob du ohne Hinderniß lieben kannſt? Denn biſt du ein- mal hingeſunken in die Arme des Geliebten, haſt du gekuͤßt ſeinen Mund, gehoͤrt ſeine Schwuͤre, ſo rettet dich nichts mehr, du biſt feſt an ihn gekettet, ſinkſt und faͤllſt mit ihm
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Amalie lehnte ſich zitternd an den Stamm
einer Linde, ſie liebte zum erſtenmale, liebte
heiß und zaͤrtlich, hatte ſich unendliche Won-
ne und Freude im Arme des Geliebten ge-
traͤumt, ſah ſie itzt mit einmal ſchwinden,
Kummer und Schmerz ſich nahen. Haͤtte
ſie in dieſem Augenblicke die Straſſe gekannt,
auf welcher ihr Geliebter wandelte, ſie wuͤr-
de Vater und Mutter verlaſſen, Ungluͤck und
Elend willig mit ihm getheilt haben. So
groß, ſo unumſchraͤnkt iſt die Macht der Lie-
be, wenn einmal das Herz ſich ihr geoͤfnet,
die Vernunft ihr die Zuͤgel uͤberlaſſen hat!
Darum, liebes Maͤdchen, huͤte dich, zu lie-
ben, ehe du uͤberzeugt biſt: ob du ohne
Hinderniß lieben kannſt? Denn biſt du ein-
mal hingeſunken in die Arme des Geliebten,
haſt du gekuͤßt ſeinen Mund, gehoͤrt ſeine
Schwuͤre, ſo rettet dich nichts mehr, du biſt
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 3. Leipzig, 1796, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien03_1796/111>, abgerufen am 22.11.2024.
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