Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.
jetzt schon Lohn für seinen Unterricht fordern wolle. Der redliche Baron erinnerte sich aber selbst sei- nes Versprechens, er würde es gewissenhaft er- füllt haben, wenn nicht Franz selbst versichert hätte, daß er noch nicht fordern könne, was er nicht verdient habe. Die Liebenden genossen jetzt die ruhigsten und glücklichsten Tage, welche nur ungestörter, reiner Genuß und ungehinderter Umgang gewähren kön- nen. Ungeachtet Franz Wilhelminens unzertrenn- licher Gefährde, ihr getreuer Führer auf allen ih- ren Spaziergängen war, so ahndete doch niemand ihre Liebe, sie konnten ungestört die Einsamkeit und ihre Früchte genießen, man hielts für unmög- lich, daß die reiche, einzige Erbin eines Barons sich bis zu dem Sohne eines armen Schulmeisters herablassen, und dieser seine Augen bis zu ihr er- heben könne. Manche achteten Wilhelminen gar der Liebe unfähig, weil sie nicht sehen, nicht Schönheit beurtheilen könne. Er steht sehr bei ihr in Gnaden! er wird einst die beste Pfarre erhalten! das war die allgemeine Meinung, wenn man ihn täglich an ihrer Seite erblickte. Wahrscheinlich würden die Augen des Vaters heller gesehen haben, wenn er sein Kind, wie ehemals, hätte beobachten können; aber ein hart- näckiges Podagra nagte schon seit zwei Jahren an seinem Körper, er mußte die meiste Zeit das Bet- te hüten, konnte äußerst selten das Zimmer ver- lassen, er fands überdieß sehr natürlich, daß
jetzt ſchon Lohn fuͤr ſeinen Unterricht fordern wolle. Der redliche Baron erinnerte ſich aber ſelbſt ſei- nes Verſprechens, er wuͤrde es gewiſſenhaft er- fuͤllt haben, wenn nicht Franz ſelbſt verſichert haͤtte, daß er noch nicht fordern koͤnne, was er nicht verdient habe. Die Liebenden genoſſen jetzt die ruhigſten und gluͤcklichſten Tage, welche nur ungeſtoͤrter, reiner Genuß und ungehinderter Umgang gewaͤhren koͤn- nen. Ungeachtet Franz Wilhelminens unzertrenn- licher Gefaͤhrde, ihr getreuer Fuͤhrer auf allen ih- ren Spaziergaͤngen war, ſo ahndete doch niemand ihre Liebe, ſie konnten ungeſtoͤrt die Einſamkeit und ihre Fruͤchte genießen, man hielts fuͤr unmoͤg- lich, daß die reiche, einzige Erbin eines Barons ſich bis zu dem Sohne eines armen Schulmeiſters herablaſſen, und dieſer ſeine Augen bis zu ihr er- heben koͤnne. Manche achteten Wilhelminen gar der Liebe unfaͤhig, weil ſie nicht ſehen, nicht Schoͤnheit beurtheilen koͤnne. Er ſteht ſehr bei ihr in Gnaden! er wird einſt die beſte Pfarre erhalten! das war die allgemeine Meinung, wenn man ihn taͤglich an ihrer Seite erblickte. Wahrſcheinlich wuͤrden die Augen des Vaters heller geſehen haben, wenn er ſein Kind, wie ehemals, haͤtte beobachten koͤnnen; aber ein hart- naͤckiges Podagra nagte ſchon ſeit zwei Jahren an ſeinem Koͤrper, er mußte die meiſte Zeit das Bet- te huͤten, konnte aͤußerſt ſelten das Zimmer ver- laſſen, er fands uͤberdieß ſehr natuͤrlich, daß <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#WILH"> <p><pb facs="#f0083" n="75"/> jetzt ſchon Lohn fuͤr ſeinen Unterricht fordern wolle.<lb/> Der redliche Baron erinnerte ſich aber ſelbſt ſei-<lb/> nes Verſprechens, er wuͤrde es gewiſſenhaft er-<lb/> fuͤllt haben, wenn nicht Franz ſelbſt verſichert<lb/> haͤtte, daß er noch nicht fordern koͤnne, was er<lb/> nicht verdient habe.</p><lb/> <p>Die Liebenden genoſſen jetzt die ruhigſten und<lb/> gluͤcklichſten Tage, welche nur ungeſtoͤrter, reiner<lb/> Genuß und ungehinderter Umgang gewaͤhren koͤn-<lb/> nen. Ungeachtet Franz Wilhelminens unzertrenn-<lb/> licher Gefaͤhrde, ihr getreuer Fuͤhrer auf allen ih-<lb/> ren Spaziergaͤngen war, ſo ahndete doch niemand<lb/> ihre Liebe, ſie konnten ungeſtoͤrt die Einſamkeit<lb/> und ihre Fruͤchte genießen, man hielts fuͤr unmoͤg-<lb/> lich, daß die reiche, einzige Erbin eines Barons<lb/> ſich bis zu dem Sohne eines armen Schulmeiſters<lb/> herablaſſen, und dieſer ſeine Augen bis zu ihr er-<lb/> heben koͤnne. Manche achteten Wilhelminen gar<lb/> der Liebe unfaͤhig, weil ſie nicht ſehen, nicht<lb/> Schoͤnheit beurtheilen koͤnne. Er ſteht ſehr bei<lb/> ihr in Gnaden! er wird einſt die beſte Pfarre<lb/> erhalten! das war die allgemeine Meinung, wenn<lb/> man ihn taͤglich an ihrer Seite erblickte.</p><lb/> <p>Wahrſcheinlich wuͤrden die Augen des Vaters<lb/> heller geſehen haben, wenn er ſein Kind, wie<lb/> ehemals, haͤtte beobachten koͤnnen; aber ein hart-<lb/> naͤckiges Podagra nagte ſchon ſeit zwei Jahren an<lb/> ſeinem Koͤrper, er mußte die meiſte Zeit das Bet-<lb/> te huͤten, konnte aͤußerſt ſelten das Zimmer ver-<lb/> laſſen, er fands uͤberdieß ſehr natuͤrlich, daß<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [75/0083]
jetzt ſchon Lohn fuͤr ſeinen Unterricht fordern wolle.
Der redliche Baron erinnerte ſich aber ſelbſt ſei-
nes Verſprechens, er wuͤrde es gewiſſenhaft er-
fuͤllt haben, wenn nicht Franz ſelbſt verſichert
haͤtte, daß er noch nicht fordern koͤnne, was er
nicht verdient habe.
Die Liebenden genoſſen jetzt die ruhigſten und
gluͤcklichſten Tage, welche nur ungeſtoͤrter, reiner
Genuß und ungehinderter Umgang gewaͤhren koͤn-
nen. Ungeachtet Franz Wilhelminens unzertrenn-
licher Gefaͤhrde, ihr getreuer Fuͤhrer auf allen ih-
ren Spaziergaͤngen war, ſo ahndete doch niemand
ihre Liebe, ſie konnten ungeſtoͤrt die Einſamkeit
und ihre Fruͤchte genießen, man hielts fuͤr unmoͤg-
lich, daß die reiche, einzige Erbin eines Barons
ſich bis zu dem Sohne eines armen Schulmeiſters
herablaſſen, und dieſer ſeine Augen bis zu ihr er-
heben koͤnne. Manche achteten Wilhelminen gar
der Liebe unfaͤhig, weil ſie nicht ſehen, nicht
Schoͤnheit beurtheilen koͤnne. Er ſteht ſehr bei
ihr in Gnaden! er wird einſt die beſte Pfarre
erhalten! das war die allgemeine Meinung, wenn
man ihn taͤglich an ihrer Seite erblickte.
Wahrſcheinlich wuͤrden die Augen des Vaters
heller geſehen haben, wenn er ſein Kind, wie
ehemals, haͤtte beobachten koͤnnen; aber ein hart-
naͤckiges Podagra nagte ſchon ſeit zwei Jahren an
ſeinem Koͤrper, er mußte die meiſte Zeit das Bet-
te huͤten, konnte aͤußerſt ſelten das Zimmer ver-
laſſen, er fands uͤberdieß ſehr natuͤrlich, daß
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