Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.Wie ihr Probejahr verflossen war, forderte sie mit edlem Ungestüme und mit sichtbarer Begierde die Aufnahme, sie war nie so zufrieden und ver- gnügt, als am Tage der Gewährung, und schwor mit gesetztem und standhaftem Muthe den fürch- terlichen Eid der Keuschheit in die Hände des Priesters. Das versammelte Volk nannte sie eine lebendige Heilige, und die Nonnen dankten der Vorsehung, welche nicht allein ein so reiches Mädchen, sondern auch in diesem, ein ächtes Bei- spiel der wahren Gottesfurcht in ihr Kloster ge- führt hatte. Sie theilte nun ihre Zeit in Gebet und Arbeit, mehr als die Hälfte war jenem, die übrige ganz der letztern gewidmet, nur am Aben- de eilte sie gemeiniglich nach dem großen Garten des Klosters, wo jede Nonne ein abgetheiltes Stück zur eignen Pflege und Bearbeitung erhal- ten hatte. Sie wählte sich eines im abgelegen- sten und ödesten Theile des Gartens, sie umfaßte es mit Raute und Wermuth, pflanzte in die Mitte desselben einen verdorrten Rosenstrauch und umgab diesen mit dem Blümlein, die brennende Liebe genannt. Die übrigen Theile wurden von ihr mit den schönsten Blumen besetzt, und da sie kein Geld sparte, so blühte ihr Gärtchen bald herrlich, sie gieng dann gedankenvoll darinne um- her, pflegte die Blumen, und weinte oft im Stillen, wenn alles nur die dürre Rosenstaude nicht grünte. Der Garten war mit einer hohen Mauer umgeben, rechts konnte man zwar einige Wie ihr Probejahr verfloſſen war, forderte ſie mit edlem Ungeſtuͤme und mit ſichtbarer Begierde die Aufnahme, ſie war nie ſo zufrieden und ver- gnuͤgt, als am Tage der Gewaͤhrung, und ſchwor mit geſetztem und ſtandhaftem Muthe den fuͤrch- terlichen Eid der Keuſchheit in die Haͤnde des Prieſters. Das verſammelte Volk nannte ſie eine lebendige Heilige, und die Nonnen dankten der Vorſehung, welche nicht allein ein ſo reiches Maͤdchen, ſondern auch in dieſem, ein aͤchtes Bei- ſpiel der wahren Gottesfurcht in ihr Kloſter ge- fuͤhrt hatte. Sie theilte nun ihre Zeit in Gebet und Arbeit, mehr als die Haͤlfte war jenem, die uͤbrige ganz der letztern gewidmet, nur am Aben- de eilte ſie gemeiniglich nach dem großen Garten des Kloſters, wo jede Nonne ein abgetheiltes Stuͤck zur eignen Pflege und Bearbeitung erhal- ten hatte. Sie waͤhlte ſich eines im abgelegen- ſten und oͤdeſten Theile des Gartens, ſie umfaßte es mit Raute und Wermuth, pflanzte in die Mitte deſſelben einen verdorrten Roſenſtrauch und umgab dieſen mit dem Bluͤmlein, die brennende Liebe genannt. Die uͤbrigen Theile wurden von ihr mit den ſchoͤnſten Blumen beſetzt, und da ſie kein Geld ſparte, ſo bluͤhte ihr Gaͤrtchen bald herrlich, ſie gieng dann gedankenvoll darinne um- her, pflegte die Blumen, und weinte oft im Stillen, wenn alles nur die duͤrre Roſenſtaude nicht gruͤnte. Der Garten war mit einer hohen Mauer umgeben, rechts konnte man zwar einige <TEI> <text> <body> <div n="1"> <sp who="#ESTHER"> <pb facs="#f0034" n="26"/> <p>Wie ihr Probejahr verfloſſen war, forderte ſie<lb/> mit edlem Ungeſtuͤme und mit ſichtbarer Begierde<lb/> die Aufnahme, ſie war nie ſo zufrieden und ver-<lb/> gnuͤgt, als am Tage der Gewaͤhrung, und ſchwor<lb/> mit geſetztem und ſtandhaftem Muthe den fuͤrch-<lb/> terlichen Eid der Keuſchheit in die Haͤnde des<lb/> Prieſters. Das verſammelte Volk nannte ſie eine<lb/> lebendige Heilige, und die Nonnen dankten der<lb/> Vorſehung, welche nicht allein ein ſo reiches<lb/> Maͤdchen, ſondern auch in dieſem, ein aͤchtes Bei-<lb/> ſpiel der wahren Gottesfurcht in ihr Kloſter ge-<lb/> fuͤhrt hatte. Sie theilte nun ihre Zeit in Gebet<lb/> und Arbeit, mehr als die Haͤlfte war jenem, die<lb/> uͤbrige ganz der letztern gewidmet, nur am Aben-<lb/> de eilte ſie gemeiniglich nach dem großen Garten<lb/> des Kloſters, wo jede Nonne ein abgetheiltes<lb/> Stuͤck zur eignen Pflege und Bearbeitung erhal-<lb/> ten hatte. Sie waͤhlte ſich eines im abgelegen-<lb/> ſten und oͤdeſten Theile des Gartens, ſie umfaßte<lb/> es mit Raute und Wermuth, pflanzte in die<lb/> Mitte deſſelben einen verdorrten Roſenſtrauch und<lb/> umgab dieſen mit dem Bluͤmlein, die brennende<lb/> Liebe genannt. Die uͤbrigen Theile wurden von<lb/> ihr mit den ſchoͤnſten Blumen beſetzt, und da ſie<lb/> kein Geld ſparte, ſo bluͤhte ihr Gaͤrtchen bald<lb/> herrlich, ſie gieng dann gedankenvoll darinne um-<lb/> her, pflegte die Blumen, und weinte oft im<lb/> Stillen, wenn alles nur die duͤrre Roſenſtaude<lb/> nicht gruͤnte. Der Garten war mit einer hohen<lb/> Mauer umgeben, rechts konnte man zwar einige<lb/></p> </sp> </div> </body> </text> </TEI> [26/0034]
Wie ihr Probejahr verfloſſen war, forderte ſie
mit edlem Ungeſtuͤme und mit ſichtbarer Begierde
die Aufnahme, ſie war nie ſo zufrieden und ver-
gnuͤgt, als am Tage der Gewaͤhrung, und ſchwor
mit geſetztem und ſtandhaftem Muthe den fuͤrch-
terlichen Eid der Keuſchheit in die Haͤnde des
Prieſters. Das verſammelte Volk nannte ſie eine
lebendige Heilige, und die Nonnen dankten der
Vorſehung, welche nicht allein ein ſo reiches
Maͤdchen, ſondern auch in dieſem, ein aͤchtes Bei-
ſpiel der wahren Gottesfurcht in ihr Kloſter ge-
fuͤhrt hatte. Sie theilte nun ihre Zeit in Gebet
und Arbeit, mehr als die Haͤlfte war jenem, die
uͤbrige ganz der letztern gewidmet, nur am Aben-
de eilte ſie gemeiniglich nach dem großen Garten
des Kloſters, wo jede Nonne ein abgetheiltes
Stuͤck zur eignen Pflege und Bearbeitung erhal-
ten hatte. Sie waͤhlte ſich eines im abgelegen-
ſten und oͤdeſten Theile des Gartens, ſie umfaßte
es mit Raute und Wermuth, pflanzte in die
Mitte deſſelben einen verdorrten Roſenſtrauch und
umgab dieſen mit dem Bluͤmlein, die brennende
Liebe genannt. Die uͤbrigen Theile wurden von
ihr mit den ſchoͤnſten Blumen beſetzt, und da ſie
kein Geld ſparte, ſo bluͤhte ihr Gaͤrtchen bald
herrlich, ſie gieng dann gedankenvoll darinne um-
her, pflegte die Blumen, und weinte oft im
Stillen, wenn alles nur die duͤrre Roſenſtaude
nicht gruͤnte. Der Garten war mit einer hohen
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