Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796.

Bild:
<< vorherige Seite
chen Eid, daß sie nun ihn und jeden Mann has-
sen werde.

Von dieser unglücklichen Stunde an, war alle
gesellige Freude des Lebens für sie verlohren, sie
verließ oft Wochenlang ihr Zimmer nicht, genoß
wenig Speise, und sprach noch weniger. Der
Vater sah ihr Leiden, und da er nicht helfen
konnte, so vollendete der Kummer bald die völlige
Zerstörung seiner Gesundheit, an welcher das Al-
ter schon lange vorher gearbeitet hatte. Er konn-
te sein Lager nicht mehr verlassen, er starb in den
Armen seines einzigen Kindes, das blos deswegen
Thränen vergoß, weil es nicht mit ihm sterben,
nicht mit ihm eine Welt verlassen konnte, in wel-
cher nichts als Trug und Elend herrschte. Ehe
der Vater schied, bat er seine Tochter, ihren
Kummer mit in sein Grab zu senken, und so zu
enden, daß er sie einst dort wieder umarmen kön-
ne. Sein Tod machte sie zur Erbin einer hal-
ben Million, welche ihr Vater bei den angesehen-
sten Kaufleuten, und selbst in der holländischen
Bank zinsbar angelegt hatte. Da die Gesetze ih-
res Landes ihr schon im zwanzigsten Jahre die
freie Verwaltung ihres Vermögens zusicherten,
so kündigte sie alle ihre Kapitale nach und nach
auf, verkaufte alles, was sie zu F -- besaß,
machte zehn arme Familien durch reiche Geschen-
ke glücklich, und reiste endlich so geheim und
schnell ab, daß in ihrer Vaterstadt niemand
chen Eid, daß ſie nun ihn und jeden Mann haſ-
ſen werde.

Von dieſer ungluͤcklichen Stunde an, war alle
geſellige Freude des Lebens fuͤr ſie verlohren, ſie
verließ oft Wochenlang ihr Zimmer nicht, genoß
wenig Speiſe, und ſprach noch weniger. Der
Vater ſah ihr Leiden, und da er nicht helfen
konnte, ſo vollendete der Kummer bald die voͤllige
Zerſtoͤrung ſeiner Geſundheit, an welcher das Al-
ter ſchon lange vorher gearbeitet hatte. Er konn-
te ſein Lager nicht mehr verlaſſen, er ſtarb in den
Armen ſeines einzigen Kindes, das blos deswegen
Thraͤnen vergoß, weil es nicht mit ihm ſterben,
nicht mit ihm eine Welt verlaſſen konnte, in wel-
cher nichts als Trug und Elend herrſchte. Ehe
der Vater ſchied, bat er ſeine Tochter, ihren
Kummer mit in ſein Grab zu ſenken, und ſo zu
enden, daß er ſie einſt dort wieder umarmen koͤn-
ne. Sein Tod machte ſie zur Erbin einer hal-
ben Million, welche ihr Vater bei den angeſehen-
ſten Kaufleuten, und ſelbſt in der hollaͤndiſchen
Bank zinsbar angelegt hatte. Da die Geſetze ih-
res Landes ihr ſchon im zwanzigſten Jahre die
freie Verwaltung ihres Vermoͤgens zuſicherten,
ſo kuͤndigte ſie alle ihre Kapitale nach und nach
auf, verkaufte alles, was ſie zu F — beſaß,
machte zehn arme Familien durch reiche Geſchen-
ke gluͤcklich, und reiſte endlich ſo geheim und
ſchnell ab, daß in ihrer Vaterſtadt niemand
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <sp who="#ESTHER">
          <p><pb facs="#f0030" n="22"/>
chen Eid, daß &#x017F;ie nun ihn und jeden Mann ha&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en werde.</p><lb/>
          <p>Von die&#x017F;er unglu&#x0364;cklichen Stunde an, war alle<lb/>
ge&#x017F;ellige Freude des Lebens fu&#x0364;r &#x017F;ie verlohren, &#x017F;ie<lb/>
verließ oft Wochenlang ihr Zimmer nicht, genoß<lb/>
wenig Spei&#x017F;e, und &#x017F;prach noch weniger. Der<lb/>
Vater &#x017F;ah ihr Leiden, und da er nicht helfen<lb/>
konnte, &#x017F;o vollendete der Kummer bald die vo&#x0364;llige<lb/>
Zer&#x017F;to&#x0364;rung &#x017F;einer Ge&#x017F;undheit, an welcher das Al-<lb/>
ter &#x017F;chon lange vorher gearbeitet hatte. Er konn-<lb/>
te &#x017F;ein Lager nicht mehr verla&#x017F;&#x017F;en, er &#x017F;tarb in den<lb/>
Armen &#x017F;eines einzigen Kindes, das blos deswegen<lb/>
Thra&#x0364;nen vergoß, weil es nicht mit ihm &#x017F;terben,<lb/>
nicht mit ihm eine Welt verla&#x017F;&#x017F;en konnte, in wel-<lb/>
cher nichts als Trug und Elend herr&#x017F;chte. Ehe<lb/>
der Vater &#x017F;chied, bat er &#x017F;eine Tochter, ihren<lb/>
Kummer mit in &#x017F;ein Grab zu &#x017F;enken, und &#x017F;o zu<lb/>
enden, daß er &#x017F;ie ein&#x017F;t dort wieder umarmen ko&#x0364;n-<lb/>
ne. Sein Tod machte &#x017F;ie zur Erbin einer hal-<lb/>
ben Million, welche ihr Vater bei den ange&#x017F;ehen-<lb/>
&#x017F;ten Kaufleuten, und &#x017F;elb&#x017F;t in der holla&#x0364;ndi&#x017F;chen<lb/>
Bank zinsbar angelegt hatte. Da die Ge&#x017F;etze ih-<lb/>
res Landes ihr &#x017F;chon im zwanzig&#x017F;ten Jahre die<lb/>
freie Verwaltung ihres Vermo&#x0364;gens zu&#x017F;icherten,<lb/>
&#x017F;o ku&#x0364;ndigte &#x017F;ie alle ihre Kapitale nach und nach<lb/>
auf, verkaufte alles, was &#x017F;ie zu F &#x2014; be&#x017F;aß,<lb/>
machte zehn arme Familien durch reiche Ge&#x017F;chen-<lb/>
ke glu&#x0364;cklich, und rei&#x017F;te endlich &#x017F;o geheim und<lb/>
&#x017F;chnell ab, daß in ihrer Vater&#x017F;tadt niemand<lb/></p>
        </sp>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[22/0030] chen Eid, daß ſie nun ihn und jeden Mann haſ- ſen werde. Von dieſer ungluͤcklichen Stunde an, war alle geſellige Freude des Lebens fuͤr ſie verlohren, ſie verließ oft Wochenlang ihr Zimmer nicht, genoß wenig Speiſe, und ſprach noch weniger. Der Vater ſah ihr Leiden, und da er nicht helfen konnte, ſo vollendete der Kummer bald die voͤllige Zerſtoͤrung ſeiner Geſundheit, an welcher das Al- ter ſchon lange vorher gearbeitet hatte. Er konn- te ſein Lager nicht mehr verlaſſen, er ſtarb in den Armen ſeines einzigen Kindes, das blos deswegen Thraͤnen vergoß, weil es nicht mit ihm ſterben, nicht mit ihm eine Welt verlaſſen konnte, in wel- cher nichts als Trug und Elend herrſchte. Ehe der Vater ſchied, bat er ſeine Tochter, ihren Kummer mit in ſein Grab zu ſenken, und ſo zu enden, daß er ſie einſt dort wieder umarmen koͤn- ne. Sein Tod machte ſie zur Erbin einer hal- ben Million, welche ihr Vater bei den angeſehen- ſten Kaufleuten, und ſelbſt in der hollaͤndiſchen Bank zinsbar angelegt hatte. Da die Geſetze ih- res Landes ihr ſchon im zwanzigſten Jahre die freie Verwaltung ihres Vermoͤgens zuſicherten, ſo kuͤndigte ſie alle ihre Kapitale nach und nach auf, verkaufte alles, was ſie zu F — beſaß, machte zehn arme Familien durch reiche Geſchen- ke gluͤcklich, und reiſte endlich ſo geheim und ſchnell ab, daß in ihrer Vaterſtadt niemand

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/30
Zitationshilfe: Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/30>, abgerufen am 21.11.2024.