daß seine schöne Gestalt auf ihre Sinne, sein ed- les, stilles Betragen auf ihr Herz mit Macht ge- wirkt habe. Konrad wohnte mit ihr in einem Hause, sein Meister, bei welchem er in Arbeit stand, hatte ein kleines Hintergebäude in der Miethe, welches mit dem größern durch einen Gang verbunden war; über diesen mußte man gehen, wenn man auf die Gasse gelangen wollte, über diesen gieng Konrad selten, ohne die Toch- ter des Hauses sehen und grüßen zu müssen. Sie erwiederte seinen Gruß stets mit großer Freundlichkeit, als aber der schüchterne Jüngling nie mehr als diesen wagte, so versuchte sies ernst- licher ihm Rede abzugewinnen. Sie forschte nach seinem Namen und Vaterlande, fragte nach sei- nen Freunden und Bekannten, und ließ sich nach und nach seine ganze, obgleich kleine, aber doch immer merkwürdige Lebensgeschichte erzählen.
Der angenehme, empfindungsvolle Ton, mit welchem er diese Geschichte erzählte, die Thränen, welche bei der Erinnerung an seine theuern Pfleg- eltern seinen Augen entstürzten, wirkten äußerst mächtig auf das unbefangne Herz des empfindsa- men Mädchens. Er war so schön, und nebenbei so unverdient unglücklich! Beides sind Eigen- schaften, an welchen Stolz und Eitelkeit des Lie- be fühlenden Mädchens sehr oft scheitert, und der keimenden Liebe willig weicht.
Karoline, so nannte sich das reiche, aber auch schöne Mädchen, hinderte diese Wirkung nicht,
daß ſeine ſchoͤne Geſtalt auf ihre Sinne, ſein ed- les, ſtilles Betragen auf ihr Herz mit Macht ge- wirkt habe. Konrad wohnte mit ihr in einem Hauſe, ſein Meiſter, bei welchem er in Arbeit ſtand, hatte ein kleines Hintergebaͤude in der Miethe, welches mit dem groͤßern durch einen Gang verbunden war; uͤber dieſen mußte man gehen, wenn man auf die Gaſſe gelangen wollte, uͤber dieſen gieng Konrad ſelten, ohne die Toch- ter des Hauſes ſehen und gruͤßen zu muͤſſen. Sie erwiederte ſeinen Gruß ſtets mit großer Freundlichkeit, als aber der ſchuͤchterne Juͤngling nie mehr als dieſen wagte, ſo verſuchte ſies ernſt- licher ihm Rede abzugewinnen. Sie forſchte nach ſeinem Namen und Vaterlande, fragte nach ſei- nen Freunden und Bekannten, und ließ ſich nach und nach ſeine ganze, obgleich kleine, aber doch immer merkwuͤrdige Lebensgeſchichte erzaͤhlen.
Der angenehme, empfindungsvolle Ton, mit welchem er dieſe Geſchichte erzaͤhlte, die Thraͤnen, welche bei der Erinnerung an ſeine theuern Pfleg- eltern ſeinen Augen entſtuͤrzten, wirkten aͤußerſt maͤchtig auf das unbefangne Herz des empfindſa- men Maͤdchens. Er war ſo ſchoͤn, und nebenbei ſo unverdient ungluͤcklich! Beides ſind Eigen- ſchaften, an welchen Stolz und Eitelkeit des Lie- be fuͤhlenden Maͤdchens ſehr oft ſcheitert, und der keimenden Liebe willig weicht.
Karoline, ſo nannte ſich das reiche, aber auch ſchoͤne Maͤdchen, hinderte dieſe Wirkung nicht,
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daß ſeine ſchoͤne Geſtalt auf ihre Sinne, ſein ed-
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wirkt habe. Konrad wohnte mit ihr in einem
Hauſe, ſein Meiſter, bei welchem er in Arbeit
ſtand, hatte ein kleines Hintergebaͤude in der
Miethe, welches mit dem groͤßern durch einen
Gang verbunden war; uͤber dieſen mußte man
gehen, wenn man auf die Gaſſe gelangen wollte,
uͤber dieſen gieng Konrad ſelten, ohne die Toch-
ter des Hauſes ſehen und gruͤßen zu muͤſſen.
Sie erwiederte ſeinen Gruß ſtets mit großer
Freundlichkeit, als aber der ſchuͤchterne Juͤngling
nie mehr als dieſen wagte, ſo verſuchte ſies ernſt-
licher ihm Rede abzugewinnen. Sie forſchte nach
ſeinem Namen und Vaterlande, fragte nach ſei-
nen Freunden und Bekannten, und ließ ſich nach
und nach ſeine ganze, obgleich kleine, aber doch
immer merkwuͤrdige Lebensgeſchichte erzaͤhlen.
Der angenehme, empfindungsvolle Ton, mit
welchem er dieſe Geſchichte erzaͤhlte, die Thraͤnen,
welche bei der Erinnerung an ſeine theuern Pfleg-
eltern ſeinen Augen entſtuͤrzten, wirkten aͤußerſt
maͤchtig auf das unbefangne Herz des empfindſa-
men Maͤdchens. Er war ſo ſchoͤn, und nebenbei
ſo unverdient ungluͤcklich! Beides ſind Eigen-
ſchaften, an welchen Stolz und Eitelkeit des Lie-
be fuͤhlenden Maͤdchens ſehr oft ſcheitert, und der
keimenden Liebe willig weicht.
Karoline, ſo nannte ſich das reiche, aber auch
ſchoͤne Maͤdchen, hinderte dieſe Wirkung nicht,
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Spiess, Christian Heinrich: Biographien der Wahnsinnigen. Bd. 2. Leipzig, 1796, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/spiess_biographien02_1796/112>, abgerufen am 16.02.2025.
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